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Mauern, Wälle, Zäune, Grenzen jeder Art haben heute eine schlechte Presse. Sie stehen im Wege, hindern Menschen, dorthin zu gehen, wohin sie gern gehen möchten. Sie sind unmenschlich und müssen weg. Als Mauern in unseren Köpfen hindern sie uns am Denken. So jedenfalls meint der Zeitgeist. Wie blind von ihm. Denn Mauern und Grenzen sind wichtig. Überlebenswichtig. Für den Einzelnen wie auch für die Gemeinschaft.

Urbilder der Grenze

Jede Mauer ist eine Grenze, eine Sonderung. Sie grenzt ein, ab und aus. Mauern können trennen wie der Hadrianswall zwischen Newcastle und Solway Firth – er trennte den römisch besetzten Teil Britanniens vom Territorium der nördlich davon hausenden Barbaren. Ähnlich der Limes in Germanien. Andere Mauern umschließen ein Terrain ringförmig – etwa die mittelalterliche Stadtmauer. Sie gliedert den Raum in ein Innen und ein Außen – im Innen gelten andere Gesetze als außerhalb. Stadtluft macht frei, hieß es – gelang einem Leibeigenen die Flucht in den Rechtsraum, der innerhalb der schützenden Mauern der Stadt bestand, war er nicht länger unfreier Untertan seines adligen Gutsherrn.

 

Mauern bilden Persönlichkeit

Mauern, so könnte man sagen, sind sichtbarer Ausdruck der Geltung von Gesetzen und Regeln. Das gilt auch für solche Mauern und Grenzsetzungen, die als Regelwerke des Miteinanders nicht materieller Natur sind. Kinder etwa müssen Grenzen erfahren – Grenzen, die ihre Handlungsmöglichkeiten zunächst eingrenzen und ihnen zeigen, dass eben nicht alles erlaubt und möglich ist. Kindliche Grenzüberschreitungen können schmerzhaft sein und Strafen nach sich ziehen. In jedem Fall sind sie mit einem laufenden Zugewinn an Selbsterkenntnis verbunden. Auf diese Weise lernt ein Kind, sich zunächst in seine Welt einzufügen und deren Grenzen danach Schritt für Schritt auszuweiten. Für diese Freiheit der Erweiterung ist die vorausgehende Grenzerfahrung eine notwendige Voraussetzung.

 

Persönlichkeitsmangel als Folge antiautoritärer Erziehung

Die sogenannte antiautoritären Erziehung missachtete dieses Prinzip. Aus vielen antiautoritär erzogenen Kindern wurden Erwachsene, denen die prägende Erfahrung eines sich umgrenzenden Ichs versagt blieb. Solche Menschen konnten im Grunde nie erwachsen werden, weil sie nie die Erfahrung einer Grenze machen durften. Sie wurden nie zu einer Persönlichkeit, die ja erst im Kampf gegen eine Grenze entstehen kann. Wem alles erlaubt ist, dem ist im Grunde nichts erlaubt. Ihm ist auch nichts möglich, weil er sich nie für eine Möglichkeit entscheiden musste. Wer sich nie für eine Möglichkeit entscheiden musste, kann die Erfahrung der Freiheit nicht machen. Wer aber diesen Kampf um die Freiheit nie führen musste, bleibt Gefangener einer entgrenzten Wesenlosigkeit.

 

Rechtsfreie Räume entstehen, wo Grenzen fallen

Auch Staaten brauchen Grenzen. Es muss nicht immer gleich ein Bauwerk von den Ausmaßen der chinesische Mauer oder des geplanten Trump-Walls sein. Die Grenze eines Staates sondert nicht nur Territorien voneinander, sondern auch die in ihnen geltenden rechtlichen Normen, auf denen Gemeinschaft beruht und die deshalb zu schützen sind. Diese Grenze hat jederzeit Anspruch auf Geltung. Ein Staat, der darauf verzichtet, zu kontrollieren, wer seine Grenzen überschreitet, gibt seine Identität als Staat auf. Die in ihm geltenden Regeln verlieren an Verbindlichkeit – insbesondere dann, wenn in großer Zahl Menschen die Grenze überschreiten, die ihrerseits eigene Regelwerke im Gepäck haben, mit denen sie einen rechtsfrei gewordenen Raum besetzen.

 

Grenzen ziehen

Wir müssen im Kleinen wie im Großen wieder lernen, Mauern zu errichten – Mauern, die Identitäten klar umreißen, die das Eigene erkennen lassen und vom Fremden sondern. Nur so kann es gelingen, das Eigene wie auch das Eigene des Fremden zu wahren. Gelingt diese Sonderung nicht, entsteht ein konturenloser Brei der Kulturen, der an jedem Ort der Welt gleich schmeckt – nämlich nach einem faden Nichts.  Wo wir hingegen die Sonderung aufrecht erhalten oder neu begründen, erhalten wir die Differenz. Und mit der Differenz das Besondere.

 

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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