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In T.C. Boyles neuem Roman „Sprich mit mir“ geht es um Affen. Genauer gesagt: um wahre Affenliebe. Wobei der Ausdruck Affe es nicht trifft, denn Sam – die wahre Hauptfigur dieses Romans – ist ein Schimpanse.

Schimpansen sind zoologisch betrachtet unsere nächsten Verwandten – der letzte Abzweig eines gemeinsamen Stammbaums, bevor die direkten Vorläufer von Homo sapiens sich langsam zu etwas völlig Anderem, Größerem, Schrecklicherem weiterentwickelten. Zu uns. Entwicklungsgeschichtliche Nebenlinien auf dem Weg zu uns, also weitere Abzweigungen oder direkte Vorfahren – Neanderthaler, Homo Heidelbergensis, Denisova-Mensch, Homo Erectus, Homo Ergaster, Homo Africanus, Australopithecus und wie sie auch alle heißen – starben allesamt aus. Übrig blieben – vorerst – wir.

Nun ist also der Schimpanse unser nächster noch lebender Verwandter. Man muss Verwandte nicht unbedingt mögen, aber nützlich können sie schon sein. Unser Erbgut unterscheidet sich nämlich lediglich zu 1,37 Prozent vom dem des Schimpansen (im Vergleich: zu 1,75 Prozent vom Gorilla und zu 3,4 Prozent vom Orang-Utan). Das macht den Schimpansen interessant für Verhaltensbiologen und natürlich für die forschenden Unternehmen der pharmazeutischen Industrie.

Genau darum geht es in „Sprich mit mir“: Der Schimpanse Sam hat insofern Glück, als er vorerst nicht für das pharmazeutische Versuchslabor vorgesehen ist, sondern für die Verhaltensforschung. Der Schimpanse Sam erlernt die menschliche Sprache – natürlich kann er aufgrund fehlender anatomischer Voraussetzungen nicht wirklich sprechen, aber er kann die Gebärdensprache erlernen. Er versteht die Menschen – und er kann sich ihnen verständlich machen. Verstehen, sich verständlich machen können – das setzt etwas voraus, was wir als Denken oder Bewusstsein bezeichnen. Und das ist der Punkt: Der Schimpanse Sam – mit dem Denken und dem Ausdrucksvermögen gewinnt er Individualität, Persönlichkeit – ist uns nahe. Sehr nahe.

Insofern liegt es auch nahe, ihn zu einer literarischen Figur zu machen, die nicht nur irgendwas macht, sondern die ihren Gedanken und Gefühlen sprachlichen Ausdruck verleihen kann wie jede andere auch. Das allein wäre aber noch keine ausreichende Grundlage für einen Roman – jedenfalls zu keinem Roman aus der Feder von T.C. Boyle. Anders als die meisten seiner europäischen und vor allem seiner deutschen Kollegen vermag dieser Autor es, Funken zu schlagen, während die Pulverkiste in unmittelbarer Nähe steht. Keine verregnete Innerlichkeit, kein unproduktives Grübeln, keine feinziselierten Gedankenwelten, sondern brachiales Leben.

Boyle ist unter allen lebenden Autoren (die bereits verstorbenen getrost mit eingerechnet) derjenige, dessen Arbeitsweise am ehesten der eines Verhaltensforschers gleicht. Nein, nicht irgendeines akademischen Biedermanns, der kaum je aus der bedrückenden Enge seines Instituts herausgekommen ist. Boyle ist ein Verhaltensforscher, den – was nicht moralisch zu verstehen ist, sondern lediglich als Beschreibung der Neigung, ständig und lustvoll Grenzen des Erlaubten zu überschreiten – eine gewisse Bösartigkeit auszeichnet: Er spannt seine Figuren in Apparaturen ein, wie man sie aus der Materialforschung kennt, erhöht langsam aber stetig die Spannung – und steuert unbarmherzig auf den Punkt zu, an dem das Material zerbricht, zerreißt, in Stücke fliegt. Das Versuchsobjekt in diesem Fall ist nicht nur Sam. Es gibt zwei weitere Versuchsobjekte. Einen jungen, karrierebewussten Professor und eine noch jüngere Studentin. Es entwickelt sich so etwas wie eine Menage à trois zwischen dem Mann, der Frau und Sam. Das kann natürlich nur tragisch enden.

Doch wie immer bei Boyle ist, wo die Tragik sich entfaltet, das homerische Gelächter nicht fern. Bei Homer lachen, man erinnert sich, nur die Götter. Sie lachen über den Menschen, der sich verzweifelt aus der göttlichen Versuchsanordnung zu befreien sucht und grandios scheitert. Scheitern muss, weil die Menschen eben nur Menschen sind. Bei Boyle allerdings können auch die Menschen lachen – jedenfalls dann, wenn sie sich selbst als vermeintliche Krone der Schöpfung einmal nicht so bierernst nehmen.

Daher eine klare Leseempfehlung, die ich gleich auf sämtliche Werke des Autors ausdehnen möchte. Falls ich jedoch aus dessen Gesamtwerk einen persönlichen Favoriten benennen sollte, wäre es World’s End. Dort erleben wir mit, wie eine bestimmte, sehr hässliche menschliche Eigenschaft – die Neigung zum Verrat – sich über Generationen vererbt (hier konkret von der Besiedelung des Hudson Valley durch holländische Siedler im 17. Jahrhundert bis hin ins Hippiezeitalter). Wir können uns eben nicht entfliehen. Darüber kann man doch mal herzhaft lachen, oder?

Dieser Text ist auch auf www.anbruch-magazin.de erschienen.

Foto: Lutz Meyer

 

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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