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Man muss kein ausgemachter Misanthrop sein, um festzustellen, dass nichts die Entwicklung der menschlichen Intelligenz so sehr befördert hat, wie die Erfindung von immer raffinierteren, immer gemeineren Waffen. Das ist der Kern von Kreativität.

In ihrem Buch „Silent Spring“ stellte Rachel Carson 1962 fest, dass von den frühen 40er Jahren bis 1960 weltweit über 200 neue chemische Ausgangsstoffe (!) entwickelt wurden (die wiederum Tausende neuer Produkte auf dieser Basis nach sich zogen)  – ein Boom, der nicht zuletzt durch den zweiten Weltkrieg ausgelöst wurde. Zwar galten längst nicht alle dieser Neuentwicklungen der Vernichtung menschlicher Feinde – nicht wenige dienten wie DDT auch dazu, andere Lebensformen auszulöschen. Seither haben sich die Erfindungen, mit der Menschen ihresgleichen wie auch anderen Lebewesen zu Leibe rücken, ins Unendliche erweitert. Nichts macht so kreativ wie die Aussicht auf Beute.

Erfindergeist ist im Nebenberuf mörderisch

Seit Urzeiten entwickelte sich der Erfindungsreichtum des Menschen analog zum Fortschreiten seiner Waffentechnik. Hätte man sich je für die Gewinnung und Formbarkeit von Metallen interessiert, wenn man aus Kupfer, Bronze und Eisen nicht auch Schwerter, Speere und Pfeilspitzen hätte herstellen können? Waffen, die dem Gegner weitaus gefährlicher werden konnten, als Flintdolch und Steinbeil? Leonardo da Vinci, Inbegriff menschlicher Genialität und Urbild eines kreativen Mensschen, war nicht nur ein gefragter Architekt und Künstler, sondern entwarf auch ausgeklügelte Kriegsmaschinen von beachtlichem Tötungspotenzial.

Doch auch dort, wo der Gegner nicht getötet, sondern nur vor den eigenen Karren gespannt werden soll, herrscht kriegerisches Denken. Im Marketing etwa geht es um die Verteidigung von Marktanteilen, um die Eroberung neuer Märkte: Neue Zielgruppen müssen erschlossen und für die eigenen Zwecke zu Konsumsklaven gemacht werden. Werbung und Markenkommunikation stellen die Waffen bereit, um der Beute nachzustellen. Kreativität ist dabei die Mutter aller Waffen.

Kreativität hat in diesem Sektor nichts zu tun mit harmloser Spielerei oder heimischer Bastelarbeit in der Vorweihnachtszeit. Kreativität ist durchaus kriegerisch, insofern sie ständig neue Mittel und Methoden ersinnt, um arglose Verbraucher in Fallen zu locken, aus denen sie nicht mehr herauskommen. Man spielt dabei mit Sehnsüchten, mit Emotionen, mit Träumen, wie sie in jedem Menschen angelegt und wirksam sind. Das alles sind Köder, nach denen die Beute süchtig gemacht wird. Je ausgeprägter die Sucht nach einem bestimmten Produkt eines bestimmten Herstellers wird, desto erfolgreicher und wertvoller wird die jeweilige Marke. Es reicht dann irgendwann die reine Vorweisung des Markenzeichens – des Logos –, um die Konditionierung wirksam werden zu lassen. Das Produkt dahinter wird zweitrangig.

Die menschliche Intelligenz entwickelt ständig neue Wege, um Beute zu machen. Ohne Aussicht auf Beute würde sie wahrscheinlich schnell träge werden, ihre Überlebensfähigkeit wäre bald in Frage gestellt. Weil aber durch die hemmungslose und maßlose kriegerische Kreativität die Überlebensfähigkeit ebenso bedroht ist, bleibt die ganze Sache eine spannende Gratwanderung.

Foto: Lutz Meyer

 

 

 

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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