Das Erotische in der Natur ist allgegenwärtig. Nicht, weil Schäferstündchen gern im…

Ostseejade ist für mich der Inbegriff sprachlichen Schabernacks. Für gewöhnlich wird dieser Stein, den man an der Ostsee findet, Faserkalk oder Fasercalcit genannt. Doch wer würde sich schon einen Anhänger aus Faserkalk um den Hals hängen oder gar Geld dafür ausgeben? Faserkalk, das klingt nach hartnäckigen Kalkrückständen im Sanitärbereich, jedenfalls unangenehm.
Die Besonderheit banalen Faserkalks
Oft ist der Stein leicht durchscheinend und von gelbgrüner Farbe, er erinnert vielleicht ein wenig an edle Jade. Die dünne schwarze Linie im Stein ist die Spur eines Vulkanausbruchs vor gut 40 Millionen Jahren.
Diese Ascheschicht ist präziser formuliert eine Tufflage – verfestigtes vulkanisches Eruptivgestein. Zu jener Zeit, als der Stein entstand, waren die Dinosaurier schon ausgestorben, doch es gab hierzulande Riesenameisen, Krokodile, Riesenschlangen und Pferde, die auch im Erwachsenenalter so klein wie ein Fuchs waren. Von alledem erzählt dieser dünne schwarze Strich in einem kleinen Stein. Nebenbei erinnert uns diese feine schwarze Linie uns aber auch daran, dass wir auf einer riesigen Magmakammer sitzen und uns nur ein Geringes von der totalen Auslöschung trennt. Fasercalcit ist an den Küsten der Ostsee übrigens gar nicht so selten zu finden. Doch um Fasercalcite mit gut ausgeprägter Ascheschicht zu finden, braucht es schon etwas Glück.
Der Stein ist relativ weich und lässt sich gut bearbeiten – die manchmal etwas rauhe Oberfläche lässt sich mit feinem Schmirgelpapier schleifen, die Oberfläche danach noch polieren. Fertig ist der Schmuckstein zum Beispiel für einen Anhänger. Fehlt nur noch ein zugkräftiger Name – Faserkalk oder Fasercalcit klingt plump und unschön. Ostseejade hingegen wirkt schon vom Klang her sanft, fein, weich, verführerisch, verlockend, wertvoll. Da gibt man für ein farblich schönes, gut bearbeitetes Stück gern schon mal 30 oder 40 Euro aus. Mit echter Jade aber hat dieses Mineral freilich nichts zu tun. Wir haben hier ein Beispiel dafür, wie man mit sprachlichen Mitteln aus etwas Gewöhnlichem eine exklusive Besonderheit zaubern kann. Noch ein Beispiel? Gern.
Die Besonderheit banalen Rübenzuckers
Ostseejade und Rübenzucker haben auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten. Auf den zweiten eigentlich auch nicht. Wenn man einmal von der sprachlichen Finesse absieht, mit der beides veredelt wird. Wie Faserkalk sich in Ostseejade verwandelt, wird das Genussgift aus der Lebensmittelindustrie zum „reinen Naturprodukt“, „für eine vegane Ernährung geeignet“, „von Natur aus laktose- und glutenfrei“ und ist selbstverständlich „nachhaltig“ (all das kann man auf der abgebildeten Verpackung nachlesen). Auf diese Weise bekommt der hochgradig krankmachende Zucker die Aura eines trendigen, gesunden Lifestyleprodukts.
In beiden Fällen – Ostseejade und Zucker – greift ein sprachlicher Trick. Durch Umbenennung oder aber durch die willkürliche Zuweisung von Eigenschaften macht man Gewöhnliches oder gar Schädliches zu etwas überaus Begehrenswertem.
Weitere Beispiele gibt es zuhauf – doch nicht alle sind so harmlos wie Ostseejade und veganer Rübenzucker. Eine lebensgefährliche Gentherapie etwa wird zur lebensrettenden Impfung, die Einschränkung der Meinungsfreiheit schützt plötzlich die Demokratie und sommerlich schönes Wetter wird zum alles Leben auf Erden auslöschenden menschengemachten Klimawandel.
Fotos: Lutz Meyer