Skip to content

Eine Glasmurmel und eine Flintknolle – mehr braucht es nicht, um unser Auge zu täuschen. Doch eine Täuschung ist nicht notwendig etwas Negatives. Eine Täuschung kann zum Quell der Kreativität werden.

Unser Auge sieht im vorliegenden Bild – ein Auge. Eine erste Täuschung. Doch wölbt sich das Weiße des Auges dem Betrachter tatsächlich entgegen? Oder ruht die Murmel in einer Mulde?  Eine zweite Täuschung tut sich auf. Der Eindruck kann von Augenblick zu Augenblick wechseln – mal sieht man eine Mulde, mal die Wölbung. Tatsächlich ist das Weiße des Auges hier eine Mulde, also konkav statt konvex.

Das Auge lässt sich leicht täuschen. Dazu bedarf es nicht einmal einer sogenannten optischen Täuschung. Oft sehen wir einfach mehr in den Dingen, als diese eigentlich hergeben. In Menschen mitunter auch. Wird einem klar, dass man sich getäuscht hat, erlebt man das Ende der Täuschung – und spricht von einer Enttäuschung. Enttäuschungen rufen in der Regel Traurigkeit oder andere negative Gefühle hervor. Doch muss das so enden?

Du siehst mehr in mir? Wie schön!

Täuschungen können durchaus produktiv sein: Wir sehen etwas, was gar nicht da ist – und kommen plötzlich auf neue Gedanken. Wir stellen Verbindungen her, die eigentlich gar nicht da sind – durch uns aber plötzlich Wirklichkeit werden. So wird ein Irrtum zum Schöpfungsakt. Das ist der Kern kreativer Arbeit. Es ist aber auch Kern des pädagogischen Wirkens.

Indem wir mehr in einem Menschen sehen, als in ihm angelegt ist, können wir diesen Menschen langsam zu dem umformen, den wir gern in ihm sehen würden. Dieses „Ich weiß, du kannst das!“ hat eine ungeheure Kraft. So wecken wir Potenziale.

Demgegenüber ist der Wunsch, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, oft auf tragische Weise unfruchtbar. Man sieht die nackten Tatsachen, ist nahe dran an dem, was als “Objektivität” bezeichnet wird, man lässt sich eben nicht täuschen – und bleibt damit einer trostlosen Faktenhuberei, einem grauen Realismus verbunden. Wo immer hingegen wir den Irrtum, die Täuschung, bewusst zulassen, kann etwas wirklich Neues entstehen, das seine eigene Dynamik entfaltet.

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

Dieser Beitrag hat 0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar