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Neustadt/ Holstein ist ein kleines Städtchen, malerisch gelegen zwischen Holsteinischer Schweiz und Ostseestrand. Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Und da heutige Touristen außer wegen Sonne, Strand und Meer nun mal am liebsten wegen der Kunst kommen, ist man in Neustadt/Holstein hier ganz besonders rührig. Seit einigen Jahren gibt es dort die sogenannte Europäische Skulpturen Triennale (2018 fand die dritte statt).

Das Prinzip ist einfach: Die Künstler arbeiten in Freiluftateliers, Einheimische und Touristen dürfen ihnen dabei über die Schulter schauen. Einige besonders gelungene Werke werden im Anschluss aus privaten oder öffentlichen Mitteln erworben, um fortan touristische Hotspots zu zieren – man nennt so etwas wohl Win-win-Situation. Ein solcher Hotspot befindet sich beispielsweise auf der Strandpromenade zwischen den zu Neustadt/Holstein gehörenden Badeorten Pelzerhaken und Rettin. Überwiegend handelt es sich bei diesen Werken um großformatige, zu markanten oder auch lustigen Formen umgearbeitete Findlinge, die aus der Region stammen.

 

Kunst mit schwerem Gerät

Die Kunst besteht darin, diesen Findlingen mit schwerem Gerät zu Leibe zu rücken – sie zu durchbohren, Formen hineinzufräsen und diese ganz oder teilweise zu polieren. Mir persönlich gefallen unbearbeitete Findlinge besser – sie sind teils Jahrmilliarden alt und besitzen allein dadurch schon eine gewisse Würde. Sie haben, seit sie aus irgendeinem damals aktiven norwegischen oder schwedischen Vulkan geschleudert wurden, vieles erlebt, sind von Gletschern mal hier- und mal dorthin verfrachtet worden. In dieser Urform sagen sie mir einfach mehr zu denn als Kunstobjekt. Ist natürlich Geschmackssache – wir wollen hier auch keine ästhetische Diskussion darüber führen, ob das nun Kunst ist oder nicht. Aber wir wollen uns doch fragen, ob dabei nicht etwas Wertvolleres verloren geht.

 

Zerstörtes Kulturgut

Bei dem oben abgebildeten Stein handelt es sich um das Objekt Moon des japanischen Kunstprofessors Asano Hiroyuki. Der Findling wurde bei Bauarbeiten in einem Neustädter Neubaugebiet geborgen – er war den Neubauten im Weg, musste weg. Wie gut, dass gerade die nächste Skulpturen Triennale anstand (die von 2015). Der japanische Kunstprofessor befand den Stein als Ausgangsmaterial seines künstlerischen Schaffens für würdig und legte los. Erst bei der Aufstellung im Frühjahr 2018 fiel jemandem auf, dass der Stein schon einmal (nämlich vor rund 5.000 Jahren) bearbeitet worden war – es waren kleine, schalenförmige Vertiefungen hineingepickt worden, einige wenige waren nach dem künstlerischen Eingriff noch vorhanden. Die meisten dürfte Asano Hiroyuki zu Gesteinsmehl verarbeitet haben. Immerhin blieb der Kunstschaffende der Form der Schale treu – möglicherweise inspiriert durch das Wirken seiner neolithischen Vorgänger, die mit ihren Schalensteinen jedoch anderes im Sinn gehabt haben dürften.

 

Rätselhafte Schalensteine

Solche Schalensteine finden sich vor allem im Verbreitungsgebiet der norddeutschen und skandinavischen jungsteinzeitlichen und bronzezeitlichen Kulturen. Sie sind heute relativ selten, zumal mittelalterliche Volkssagen sie oft mit dem Teufel in Verbindung brachten und so die Aufmerksamkeit zerstörungsfreudiger christlicher Eiferer auf sich zogen. Man nimmt an, dass sie in grauer Vorzeit kultische Bedeutung hatten und bei Fruchtbarkeitszaubern und Opferritualen eine Rolle spielten.

Wie auch immer: Dieser Schalenstein fiel nun im Jahr 2015 selbst einem Opferritual zum Opfer – geopfert den kommerziellen Interessen des Tourismus. Immerhin wurde er nach seiner künstlerischen Metamorphose in etwa dort aufgestellt, wo man ihn zuvor gefunden hatte. Er steht nun im Neubaugebiet, soll an die letzte Eiszeit erinnern – vor den Touristen gleichsam schamhaft versteckt, als ob man die an ihm begangene Eselei dadurch vergessen machen könnte.

 

Wer sich selbst ein Bild machen möchte vom vielfältigen künstlerischen Treiben in Neustadt/Holstein, der schaue hier nach: www.skulpturen-triennale.de

Und wer wissen möchte, wie ein künstlerisch unbehandelter Schalenstein aussieht, kann sich ein wahres Prachtexemplar im Neustädter Zeittor-Museum ansehen:  www.zeittor-neustadt.de/

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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