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Was wäre Goethe ohne sie gewesen? Die sieben Jahre ältere Charlotte von Stein war dem Dichter das, worauf auch heute noch jeder Künstler Anspruch zu haben glaubt: eine Muse. Seine Muse. Oder genauer: Eine seiner Musen, die dem Olympier im Laufe seines Lebens zu Höhepunkten verhalfen – des künstlerischen Schaffens, wenigstens. Was aber genau ist eine Muse, was macht sie? Und wie macht sie sich so unentbehrlich, dass das Schaffen eines Künstlers mit ihrer Zuwendung gleichsam steht und fällt?

 

Frauen mit Freiheiten

Charlotte von Stein war eine glühende Verehrerin des Meisters, der seinerseits auch ihr alsbald sehr zugetan war. Zwar war sie verheiratet, Mutter von sieben Kindern gar – doch das hatte wenig zu sagen, galten Ehen wie die der Frau von Stein doch mehr als gesellschaftliches und wirtschaftliches Zweckbündnis und ließen allerlei Freiheiten zu. Ob Goethe und die Frau von Stein einander nur platonisch-erotisch oder auch dionysisch-sexuell zugewandt waren, war bereits zu Lebzeiten beider Gegenstand lebhafter Spekulationen. Sicher ist, dass nach zwischenzeitlicher Abkühlung im Alter eine Art Freundschaft bestand. Goethe war nicht der einzige Dichter seiner Zeit, der sich ganz real von der Muse küssen ließ. Schiller hatte seine Charlotte von Kalb, Hölderlin seine Susette Gontard – beides verehelichte Damen von Stand. Doch während sowohl der Herr Gemahl der Frau von Stein als auch der Gatte der Frau von Kalb die Liebschaften ihrer Gattinnen ignorierten, setzte der Bankier Gontard den als Hauslehrer engagierten Hölderlin brüsk vor der Tür, nachdem er dessen Verhältnisses zu Susette gewahr geworden war.

 

Eine Muse als Existenzgrundlage

So wie das Dichtertum sich im Laufe der Jahrhunderte manchem Wandel ausgesetzt sah, so auch das Musentum. Und je bürgerlicher der Künstler war (auch wenn der sich selbst gern als Antibürger schlechthin sah, blieb doch als lebenslanger Makel die bürgerliche oder kleinbürgerliche Herkunft erhalten), desto bürgerlicher (oder kleinbürgerlicher) waren auch die Musen. Als eine letzte Aufwallung des exzessiv gelebten Musentums kann man die Schwabinger Bohème um die Jahrhundertwende deuten, der auch Rainer Maria Rilke entstammte, durch dessen nicht allzu langes Leben sich eine Unzahl von Affären zog. Rilke pflegte seine Musen nicht nur zur Steigerung seiner künstlerischen Potenz zu nutzen, sondern auch wirtschaftlich, in dem er sich von manch einer Dame schlicht aushalten ließ. Doch das war nicht jedem Künstler vergönnt.

 

Keine frivolen Schlampen, sondern göttlichen Ursprungs

Man kann sagen: Je erfolgloser der Künstler, desto billiger die Muse. Manch ein – vielleicht auch nur verhinderter – Künstler sah sich gar gezwungen, mangels Interesse seitens echter Damen der Gesellschaft seine Zuflucht zu käuflichen Damen zu nehmen, denen dann aber oft das fehlte, was eigentlich das Musenhafte der Muse ausmacht: nämlich die innere Anteilnahme am schöpferischen Werk. Denn – das sollte man sich stets vor Augen halten –Musen sind ihrem Ursprung nach keine willigen Gespielinnen und Dienerinnen der Lust, sondern die neun Töchter der Mnemosyne und des Zeus. Eine jede der neun Musen war für die wichtigsten der menschlichen Künste zuständig. Kalliope etwa war die Muse für die epische Dichtung, die Kunst der Rhetorik, der Philosophie und der Wissenschaft. Und der Musenkuss dieser göttlichen Damen war, dessen dürfen wir uns sicher sein, kein leiblicher Akt, sondern Symbol für den göttlichen Ursprung der Künste.

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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