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Hochbegabtes Kind

Hochbegabt zu sein, heißt einen IQ zu haben, der bei mindestens 130 liegt. Das trifft statistisch gesehen auf rund zwei Prozent der Bevölkerung zu. Doch wie fühlt es sich an, ein hochbegabtes Kind zu haben? Steynerley hat sich mit einer Mutter aus Deutschlands Norden, die namentlich nicht genannt werden möchte, getroffen. Nennen wir sie Anne. Anne hat einen 11-jährigen Sohn, der seit einem Jahr aufs Gymnasium geht, und weiß seitdem er acht Jahre alt ist von seinem hohen IQ. Er selbst weiß es auch. Sie erzählte uns, wie die ausgeprägte Neugierde ihres Kindes zum Stein des Anstoßes wurde …

 

Steynerley: Ein hochbegabtes Kind zu haben, ist doch bestimmt toll. Du musst eine sehr stolze Mutter sein.

Anne: Ja, ich bin stolz auf mein Kind. Aber nicht weil es hochbegabt ist. Die intellektuelle Begabung macht es sogar manchmal schwer, stolz zu sein.

Inwiefern macht eine intellektuelle Begabung es schwer, stolz zu sein?

Wie man heute weiß, ist Hochbegabung so viel mehr als nur eine außerordentliche Leistung des Gehirns. Viele hochbegabte Kinder fühlen anders. Sie nehmen z. B. Ungerechtigkeiten viel stärker wahr als normal begabte Menschen oder steigern sich in Ängste regelrecht rein. Manche Leute behaupten auch, viele hochbegabte Kinder würden „tiefer“ fühlen. Deswegen kommt es manchmal im Alltag zu Situationen, in denen sich mein Kind anders benimmt als Außenstehende und manchmal wir Eltern es erwarten.

Hast du ein Beispiel für mich?

Am Kennlernnachmittag der Lehrerin und der Klassenkameraden hatte mein damals 5-jähriger Sohn solche Angst, dass er absolut nicht in den Klassenraum wollte. 24 zukünftige I-Dötzchen marschierten mit der Klassenlehrerin von der Pausenhalle aus los. Nur meins nicht. Ich musste seine Hand nehmen und mitgehen. 23 Kinder liefen dann in den Raum – nur zwei blieben draußen und klammerten sich an ihre Mütter. Eins davon war wieder mein Kind. Oder jetzt am Gymnasium gibt es einen Jungen in seiner Klasse, der sich absolut nicht an die Regeln hält. Dazwischen ruft, die anderen Kinder während des Unterrichts anpickst und deshalb häufig Straftexte aufbekommt, die er nicht schreibt. Da das Kind ein Flüchtlingskind ist und Schlimmes erlebt hat, sind die Lehrer nachsichtig mit ihm. Mein Kind triggert das Verhalten regelrecht. Warum macht dieses Kind das? Und warum tolerieren die Lehrer bei dem Kind Verhaltensweisen, die bei anderen Kindern schon längst zum Schulverweis geführt hätten?

Wie sieht denn überhaupt das Miteinander mit anderen Kindern aus?

Schwierig. Oft haben Gleichaltrige andere Interessen und besonders in Kita und Grundschule hatten sie auch ein anderes Sprachniveau.

Ein anderes Sprachniveau: Was genau meinst du damit?

Mein Sohn hat früh sehr gut gesprochen. Ich erinnere mich an einen Bogen beim Kinderarzt während einer der U-Unterschungen. Ich sollte eintragen, ob mein Kind schon Zweiwortsätze redet. Er sprach damals in langen Sätzen und nutzte das Personalpronomen Ich.

Da war die Grundschullehrerin doch bestimmt froh, so ein Kind in ihrer Klasse zu haben.

Ach was. Mein Sohn versuchte entweder nicht aufzufallen, indem er in kurzen, knappen Sätzen antwortete oder er benutzt seine Wortgewandtheit, um mit seiner Lehrerin zu diskutieren, z. B. darüber warum man sich für einen 45-minütigen Sportunterricht, bei dem man nur Laufspiele macht und nicht ins Schwitzen gerät, umziehen müsse.

 

“Er sagte, ein Kind sei kein Auto, das man reparieren könne.”

 

Das ist aber auch nicht einfach für eine Lehrerin. Schließlich sind da noch rund 25 andere Kinder mit ihren Bedürfnissen.

Natürlich. Ich habe versucht, vieles was in der Schule nicht optimal gelaufen ist, zu Hause aufzufangen. Ich habe meinem Kind erklärt, was von den Kindern in der Schule erwartet wird, warum jedes Kind in Deutschland in die Schule geht und und und. Oft sitzen wir abends lange zusammen an seinem Bett und reden.

Immer noch? Dein Sohn ist doch schon, Moment wie alt, 11 Jahre?

Manchmal reden wir nur über dies und das, beispielsweise sein Hobby, derzeit das Minecraft spielen. Oft haben wir aber richtig schwerwiegende Themen: Schulpflicht, Tod, Freundschaft, Mobbing etc. Meistens gehen die Gespräche viel mehr in die Tiefe als ich zuvor selbst nachgedacht habe. Das macht für mich eine Hochbegabung aus: Weiter zu denken als andere es tun. Um die Ecke zu denken und bekannte Informationen blitzschnell mit neuen zu kombinieren, um dann zu völlig neuen Ergebnisse oder wieder neuen Fragen zu kommen. Dafür liebe ich mein Kind. Ich liebe es, mit ihm philosophische Fragen zu diskutieren und Probleme dieser Welt mit mir bis dahin unbekannten Sichtweisen zu betrachten. Wenn wir beide da miteinander sitzen, dann sind wir glücklich.

Das kann ich mir vorstellen! Solche Gespräche mag ich auch. Wenn dein Sohn gerne weiter denkt und argumentiert, dann hat er doch jetzt auf dem Gymnasium bestimmt einige 1en und 2en auf dem Zeugnis?

(Lacht). Wenn es mal so wäre. Nein. Nach schlimmen Grundschuljahren mit Mobbingerfahrung durch die Lehrerin ist es eher so, dass er mündlich kaum was sagt und 5en kassiert.

Es ist schlimm, was manche Kinder schon in der Grundschule für Erfahrungen machen müssen. Hochbegabung ist glücklicherweise nichts Neues mehr. Man sollte doch annehmen, dass die Lehrer Verständnis zeigen … 

Verständnis schon. Da hat er dieses Mal Glück mit seinen Lehrerinnen. Allerdings gehört das Wissen über Hochbegabung nicht zur standardmäßigen Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen. Viele haben deshalb wenig Ahnung von den Auswirkungen einer Hochbegabung. Sie denken immer sofort an das Hochleistung erbringende Kind. An ein Musik- oder Mathegenie. Wenn das Kind diese Klischees nicht erfüllt, dann werden häufig nur noch die Defizite gesehen und anderweitige Ursachen gesucht. Schon mehr als einmal habe ich mir angehört, dass mein Kind Asperger Autist sein müsse, weil er ein Einzelgänger ist und auf dem Schulhof für sich alleine steht oder im Team schlecht arbeitet. Auch jetzt an der weiterführenden Schule ist das wieder der Fall. Die hinzugezogene Schulpsychologin hat uns sogar zum Kinderpsychiater geschickt, damit mein Kind das lernt. Ein paar Sitzungen in einer Gruppentherapie und schon würde das in der Klasse mit den anderen Kindern fluppen. Der Kinderpsychiater sah das anders. Er sagte, ein Kind sei kein Auto, das man reparieren könne und er würde keine KFZ-Werkstatt leiten, sondern eine Praxis für Kinder- und Jungendpsychiatrie. Nach den dort üblichen fünf Diagnosesitzungen sah er keine Notwendigkeit mehr für meinen Sohn, weiterhin in seine Praxis zu kommen.

Und was hat die Schulpsychologin dazu gesagt?

Das Gespräch steht noch aus. Ich habe mich darauf eingestellt, dass ich weiter darum kämpfen muss, dass mein Sohn mit seinen Eigenheiten in der Schule akzeptiert wird. Bei der zuständigen Schulbehörde gibt es einen Beauftragten für hochbegabte Kinder. Er hat zu mir einmal gesagt, man müsse auf das gucken, was klappt. Und nicht immer nur auf das, was nicht klappt. Dann würden sich viele der Probleme in Luft auflösen. Ich berücksichtige seinen Rat seitdem. Wenn ich es vergesse, erinnere ich mich wieder ganz bewusst daran. Es funktioniert nämlich tatsächlich.

Gibt es denn zu Hause auch Probleme?

(Lacht wieder) Wie mit jedem Kind. Ein bisschen schwieriger finde ich es bei einem hochbegabten Kind, dass viele althergebrachte Ratschläge oder Ratgeberbücher nicht funktionieren. Weil mein Kind anfangs nicht so schlief, wie es sollte, nicht so aß und sich nicht unbedingt an die Vorgaben hielt, was ein Kind mit welchem Alter können sollte, habe ich einige Ratgeberbücher gelesen. Schon beim Lesen habe ich gemerkt, dass die meisten der Tipps bei meinem Kind nicht klappen würden und habe stattdessen auf mein Bauchgefühl gehört – und einiges etwas kreativer und unkonventioneller gelöst.

 

“Sie hat mich als schlechte Mutter beschimpft und gedroht, mein Kind nächstes Mal zu ohrfeigen, wenn es wieder Widerworte bei ihr haben sollte.”

 

Was denn zum Beispiel?

Schwimmen lernen zum Beispiel. Da brauchte mein Kind einfach seine Zeit. Er hat zwar mit fünf Jahren sein Seepferdchen gemacht, ist aber trotzdem bis Mitte der dritten Klasse nur mit Schwimmärmeln ins Wasser gegangen. Erst als er für sich entschieden hat, der Aufenthalt im Wasser wäre jetzt sicher, hat er sie weggelassen. Eine andere Mutter hatte mir geraten, im ersten Urlaub am Meer nach dem Seepferdchenabzeichen, die Schwimmärmel daheim zu „vergessen“. Dann würde das Kind, weil es ins Wasser will, schon ohne gehen. Bei ihrem Kind hätte das wunderbar geklappt. Mein Sohn hätte in dem Urlaub keinen Fuß ins Wasser gesetzt.

Wie sieht es denn mit anderen Müttern aus? Erklärst du ein ungewöhnliches Verhalten mit der Hochbegabung?

Nein. Außer ich weiß oder vermute, dass mein Gegenüber ebenfalls ein begabtes Kind hat oder aus z. B. beruflichen Gründen im Thema ist. Die Mutter mit dem Rat, die Schwimmflügel daheim zu „vergessen“, hat nach einem Klassenausflug, bei dem sie als Begleitperson mitgefahren ist, bei uns angerufen. Sie hat mich als schlechte Mutter beschimpft und gedroht, mein Kind nächstes Mal zu ohrfeigen, wenn es wieder Widerworte bei ihr haben sollte. Stein des Anstoßes war – soweit ich das im Gespräch mit ihr und später mit meinem Sohn herausgehört habe – das Verhalten meines Kindes einer Gruppe von Behinderten gegenüber. Er ist offen auf die Betreuer zugegangen und hat sie ausgefragt, warum sie auf die Behinderten aufpassen würden, weshalb ihnen ihr Beruf Spaß machen würde und was die geistig behinderten Menschen davon hätten, wenn sie in einem Vergnügungspark wären. Würden sie begreifen, wo sie wären? Von dieser Fragerei eines damals 9jährigen Kindes peinlich berührt, hat die Mutter wohl meinem Sohn die „Leviten gelesen“. Er wiederum hat nichts Schlimmes an seinem Verhalten erkennen können und die Mutter darüber, warum man Behinderte seiner Meinung nach offen ansprechen kann, in eine Diskussion verwickelt.

Wenn ich das alles so höre, dann stelle ich es mir nicht einfach vor, ein hochbegabtes Kind zu haben. Zum Abschluss darum noch eine philosophische Frage: Haderst du manchmal mit der Hochbegabung und hättest lieber ein Kind, das normalbegabt ist?

Nein, es passt schon so. Okay, in der Schule rappelt es manchmal ziemlich. Da könnte ich gut drauf verzichten. Aber wie ich anfangs schon sagte, ist hochbegabt zu sein mehr als eine hohe Intelligenz. Ich habe das Gefühl, es prägt das ganze Wesen. Ich liebe mein Kind genau so wie es ist.

An dieser Stelle muss ich leider einen Schlusspunkt machen, da das Interview sonst zu lang wird. Danke für das interessante Gespräch!

Herzlich gerne!

 

Mehr zum Thema Hochbegabung?

Von den Schwierigkeiten eines begabten Kindes. Ein Interview

Broschüre im PDF-Format des Bundesministeriums für Bildung und Forschung „Begabte Kinder finden und fördern“

Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e. V.

Mensa in Deutschland e. V.
Kids & Juniors

Expertenkreis Hochbegabung / Potentiale, einschließlich einer deutschlandweiten „Expertenliste“.

 

Bild: Jörg Hein

 

Nicole Hein ist freie Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Gesundheit, Steuern, Lebensart & Wohnen.

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