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Kind sitzt auf einer Treppe

Eine Hochbegabung beim eigenen Kind zu entdecken, ist oft schwierig. Vor allem, wenn es nicht die Klischees erfüllt, die über die Medien transportiert werden. Wenn das Kind eben nicht mit vier Jahren virtuos Klavier spielt, mit fünf Jahren die Klassiker der Weltliteratur liest und im Grundschulalter mathematische Gleichungen löst. Steynerley hat mit einer Mutter gesprochen, deren Sohn mit 15 Jahren als weit überdurchschnittlich begabt identifiziert wurde. Und das erst nach einer jahrelangen Leidensgeschichte in der Schule und mit Erzieherinnen im Kindergarten und später Lehrerinnen und Lehrern, die dem Jungen immer wieder Steine in den Weg gelegt haben. Mutter und Sohn wohnen bei Hamburg.

 

Steynerley: Ihr habt die Diagnose „weit überdurchschnittlich begabt“ erst bekommen, als Tobias 15 Jahre alt war. Wie seid ihr überhaupt darauf gekommen, ihn in einer Praxis für Hochbegabungsdiagnostik vorzustellen?

Melanie: Ich hatte mir schon vorher wegen Problemen in der Schule Hilfe geholt, unter anderem beim Jugendamt. Hier wurde ich darauf angesprochen, ob Tobias hochsensibel sein könnte. Das war schon mal ein guter Hinweis. Auf eine mögliche Hochbegabung kam ich aber erst, als in einem Facebook-Forum für Hochsensibilität alle geschrieben habe, ich solle in diese Richtung schauen.

Wie ging es Tobias damit, als er erfahren hat, dass er weit überdurchschnittlich intelligent ist?

Sehr gut. Es haben sich seitdem viele Probleme von selbst gelöst. Er hatte sich über die Jahre das Bild aufgebaut, dass mit ihm was nicht stimmen müsste. Aber das ist völlig falsch. Jetzt weiß er, warum er anders als die meisten seiner Klassenkameraden ist. Er ist seit dem Besuch bei der Begabungsdiagnostikerin selbstbewusster geworden und auch die Interaktion mit Gleichaltrigen hat sich gebessert.

Traditionell werden Menschen als hochbegabt bezeichnet, die in einem Intelligenztest einen Intelligenzquotienten (IQ) von 130 bzw. einen Prozentrang von 97,7 und höher erreichen. Allerdings gerät dieser statistisch festgelegte Wert immer mehr in die Diskussion. Etliche Begabungsdiagnostiker, Coaches und Wissenschaftler sehen diese Grenze als zu willkürlich an und weisen darauf hin, dass die für Hochbegabte typischen Merkmale wie z. B. die hohe Denk- oder Problemlösungsfähigkeit schon bei Werten darunter existiert. Hat denn Tobias die 130 „geknackt“?

Tobias hat in einzelnen Untertests im mathematischen Bereich die 130 erreicht. Das Gesamtergebnis liegt darunter. Trotzdem hat die testende Diplom-Psychologin die Empfehlung ausgesprochen, ihn seiner hohen Begabung gemäß zu fördern. Denn aufgrund all dessen, was in den Jahren zuvor gelaufen ist, konnte er nicht mehr sein ganzes Potential zeigen. Außerdem hat sie uns den Tipp gegeben, seine Augen untersuchen zu lassen. Das Ergebnis war ein latentes Schielen mit einem Schielwinkel von 30 Grad. Das haben wir anschließend operativ korrigieren lassen.

Möchte sich Tobias noch mal testen lassen?

Ja. Das möchte er.

 

„Er fühlte sich nicht wertgeschätzt. Nicht gesehen von seinen Lehrern.“

 

Wenn ich das alles so höre: Eine mathematische Begabung, ein latentes Schielen und dann hattest du sogar noch eine Händigkeitsproblematik erwähnt – hat nichts davon mal ein Lehrer oder eine Lehrerin erkannt?

Nein. Es war sogar eher so, dass ihm ab dem Kindergarten und später in der Schule immer Steine in den Weg gelegt wurden.

Zum Beispiel?

Tobias war kaum ein Jahr im Kindergarten, da wurden uns schon sämtliche Therapien empfohlen. Er fiel z. B. dadurch auf, dass er nur mit älteren Kindern spielen wollte. Oder seine lange Aufmerksamkeitsspanne wurde als ADS abgestempelt. In der Grundschule wurde uns empfohlen, dass er die erste Klasse wiederholt, weil er so schüchtern gewesen ist. Und später in der Realschule waren die Lehrer ebenfalls keine Unterstützung. Tobias fühlte sich in der Schule nicht wertgeschätzt, nicht gesehen von seinen Lehrern. Die Situation ist immer schlimmer geworden, sodass er die 7. Klasse wiederholen musste und sogar auf die Hauptschule abgeschult wurde. Seine Klassenlehrerin in der Realschule hat Tobias – aus unserer Sicht – hängen lassen. Keine Schule hat es damals hinbekommen, dass er angstfrei hingehen konnte.

Hatte er während dieser schwierigen Zeit denn Freunde in der Schule?

Seine Grundschullehrerin war von Tobias‘ tollen sozialen Kompetenzen beeindruckt. Trotzdem tat er sich immer schwer mit Freundschaften in der Schule. In der zweiten Klasse wurde er von älteren Kindern aus der dritten und vierten Klasse gemobbt. Problematisch für ihn ist auch, dass er versucht, Konflikte verbal zu lösen. Andere Jungen lösen sie eher körperlich. Damit kommt er nicht klar und es fällt ihm dann schwer, gemeinsam mit den anderen Kindern eine Lösung zu finden. Auf der Realschule hat sich das so zugespitzt, dass er ausgegrenzt wurde und keinen Anschluss mehr gefunden hat. Er wollte schließlich mit Kindern nichts mehr zu tun haben.

 

„Er hat nie eine Therapie gebraucht. Das Problem war nur sein gebremstes Potenzial.“

 

Das ist jetzt wie lange her? Und wie seid ihr aus dieser Situation herausgekommen?

Rund ein Jahr. Tobias ist jetzt 16 Jahre alt und kommt in die neunte Klasse. Das Jugendamt hat uns geholfen, eine passende Schule für ihn zu finden. Er geht jetzt auf eine Gesamtschule, die Begabungsförderung anbietet. Er fühlte sich da sofort angenommen. Besonders in Mathe konnte er endlich zeigen, was er kann. Seine Mathelehrerin hat immer Knobelaufgaben für ihn dabei.

Es freut mich zu hören, dass es Tobias besser geht und er seinen Weg gefunden hat.

Das hat er. Tobias hat jetzt die Gymnasialempfehlung bekommen und ist entschlossen, sein Abitur zu machen. Danach möchte er Mathematik studieren.

Du hattest mir noch erzählt, dass ihr vor dem Besuch in der Praxis für Hochbegabungsdiagnostik schon bei Kinder- und Jugendpsychologen gewesen seid. Ihr habt also wirklich alles versucht, um Tobias zu helfen. Wie lautet denn dein Fazit nach dieser Odyssee, die ihr hinter euch habt?

Die Kinder- und Jugendpsychologen konnten uns nicht helfen. Auch die Therapien, die er mitgemacht hat, brachten nichts. Im Rückblick sage ich: Mein Kind hat nie eine Therapie gebraucht, das Problem war nur sein gebremstes Potenzial. Jetzt, da er es ausleben darf, läuft es.

Ich drücke Tobias beide Daumen, dass er die letzten Schuljahre gut meistert und er einen Beruf findet, der ihm Spaß macht.
Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

 

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Vom Glück ein hochbegabtes Kind zu haben. Ein Interview

Broschüre im PDF-Format des Bundesministeriums für Bildung und Forschung „Begabte Kinder finden und fördern“

Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e. V.

Mensa in Deutschland e. V.
Kids & Juniors

Expertenkreis Hochbegabung / Potentiale, einschließlich einer deutschlandweiten „Expertenliste“.

 

Bild: Jörg Hein

Nicole Hein ist freie Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Gesundheit, Steuern, Lebensart & Wohnen.

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