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Der Stein der Weisen galt in der Alchemie nach Hermes Trismegistos als Stein, mit dessen Hilfe man unedle Stoffe in Gold verwandeln konnte. Da Reichtum und Weisheit sich nur begrenzt miteinander vertragen, wurde das Wandlungsprinzip bald auch anderweitig begriffen: Der Stein der Weisen diente fortan vor allem der Heilung und Läuterung sowie der Wandlung eines niederen in ein höheres Selbst. Doch wie sieht er eigentlich aus, dieser mysteriöse Stein?

Ein Stein, der solche Fähigkeiten hat, muss, so sollte man meinen, von ganz besonderer Beschaffenheit sein – klarer und reiner als ein Diamant, mindestens so funkelnd und so wertvoll. Doch ist dieser Stein überhaupt ein Stein und nicht viel mehr nur eine Metapher? Als Kind fand ich es spannend, mir den Stein der Weisen sehr konkret vorzustellen. Bei meinen endlosen Strandgängen suchte ich zwar mehr nach Versteinerungen und steinzeitlichen Relikten, doch immer wieder gab es unter den unbestimmbaren Steinen verschiedene heiße Anwärter auf den Titel „Stein der Weisen“. Je weniger sich ein Fund einordnen ließ, desto aussichtsreicher seine Chance, von mir zum Stein der Weisen erhoben zu werden.

Lange Zeit war der oben abgebildete schwarze Stein mit seinen zahllosen, mir unerklärlichen Vertiefungen und rauh-schrundigen Oberfläche ein heißer Aspirant auf den Titel. Seine etwas unheimliche Aura ließ mich diesen Stein immer in respektvollem Abstand halten. Später erwog ich auch mal, dass es sich um einen Besucher aus dem All handeln könnte – einen Meteoriten also. Ein befragter Fachmann schüttelte den Kopf – nein, ein gewöhnlicher Basalt. Aber woher die zahlreichen Narben und Vertiefungen? Keine Ahnung. Ich glaubte ihm nicht.

 

Was heißt hier „tote Materie“?

So blieb der Stein bis heute, was er mir von Beginn an war: ein Rätsel. Gelegentlich nehme ich ihn noch heute zur Hand. Wenn er nicht aus dem All kam, so doch aus einem Vulkan und den glutflüssigen Tiefen unseres Heimatplaneten. Seine Schwärze lässt mich denn manchmal auch schaudernd an eine Ausgeburt der Hölle denken.

Denke ich hingegen ganz sachlich an sein Alter – mutmaßlich Jahrmillionen, wenn nicht Milliarden – relativiert sich vieles in meinem Leben. Welche Art von Leben hat eigentlich so ein Stein? Ist der Ausdruck „tote Materie“ nicht selbstgerecht und einer willkürlich verengten Perspektive geschuldet? Ich komme mir neben diesem Stein plötzlich recht unbedeutend vor. So alt ist er, so rätselhaft, so bedeutungsvoll. So gerät man ins Grübeln.

Und hieß der Stein der Weisen in der Antike und noch in der Renaissance nicht auch Lapis Philosophorum? So gesehen kann jeder noch so unbedeutend erscheinende Kiesel zum Denkanstoß werden – und den solchermaßen ins Denken gebrachten Menschen auf lustvolle Abwege führen.

Ich lege den schwarzen Brocken an seinen Platz zurück – ins Bücherregal, Abteilung Philosophie. Direkt vor die gesammelten Fragmente der nicht minder rätselhaften Vorsokratiker.

Foto: Lutz Meyer

 

 

 

 

 

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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