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Wohin man auch schaut: Alte Sicherheiten, alte Gewissheiten zerbröckeln gerade im Rekordtempo wie altes, marodes Mauerwerk. Jegliche Stabilität scheint aus unserer Welt gewichen zu sein. Was gestern noch wie ein festgefügtes Ganze wirkte, ist heute hochgradig einsturzgefährdet. Es betrifft den Staat und seinen Institutionen, die Kirchen, das Wirtschafts- und Finanzsystem, die Sicherheit der Energieversorgung, die internationale Sicherheitsarchitektur. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als stecke System, ja Absicht gar dahinter. Wessen Absicht – darüber mag man trefflich spekulieren.

Doch darum geht es an dieser Stelle nicht. Hier soll etwas anderes angesprochen werden: dass mit der Stabilität der äußeren Systeme auch die Stabilität der Beziehungen zwischen Menschen ins Wanken geraten kann. Partnerschaften und Freundschaften zerbrechen, Familien gehen auseinander. Oft steckte schon der Wurm wahrscheinlich schon lange drin und die äußere Krise gab nur den letzten Anstoß für das endgültige Zerbrechen. Ist das Auseinanderbrechen zwangsläufig und abwendbar?

Krisen können stark machen

Nicht jede Beziehung zwischen Menschen zerbricht unter äußerem Druck. Manchmal kann man sogar das Gegenteil beobachten: Menschen rücken enger zusammen, Freundschaften werden enger, Partnerschaften verlässlicher – es ist, als ob gerade die äußere Krise die Widerstandskraft der Seelen stärkt, anstatt sie zu schwächen. Diese seelische Widerstandskraft ist unter dem Namen Resilienz bekannt. Resiliente Naturen vergleicht man oft mit einem Stehaufmännchen – ganz gleich, wie oft sie umgeworfen werden, sie kommen sofort wieder ins Lot. Schaut man sich an, wie so ein Stehaufmännchen konstruiert ist, fällt der niedrig liegende Schwerpunkt auf. Nach diesem Prinzip sind auch Segelyachten konstruiert, die sich bei starkem Seitenwind oder Seegang wieder aufrichten und nicht kentern.

Der innere Schwerpunkt

Was wäre ein niedrig liegender Schwerpunkt beim Menschen? Vielleicht die Nähe zu den Tatsachen des Lebens, zur Erde, das Geerdet-Sein? Geerdet-Sein bedeutet, sich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren: die Schöpfungskraft des Lebendigen, Familie, Liebe, Vertrauen und Verlässlichkeit, die Achtung der eigenen Wurzeln, die Förderung von Bildung und Intelligenzentwicklung und wohl auch den Glauben an etwas, was größer ist als man selbst.

Ein Leben aus dem inneren Schwerpunkt bedeutet, sich nicht von Systemen und ihren Angeboten vereinnahmen zu lassen und ihren Glücksversprechungen nicht zu vertrauen. Menschen darf man lieben und ihnen vertrauen, Systemen niemals. Auch Menschen, die dem System innerlich oder äußerlich eng verbunden sind (seine Repräsentanten, Profiteure, Mitläufer und Sympathisanten), sind zu meiden.

Ohne den Glauben an Systeme und ohne innere Abhängigkeit von ihnen fällt es leichter, Krisen als Chance zu erkennen, sie zu akzeptieren statt vor ihnen zu kapitulieren und Strategien zur Bewältigung der Zukunft aufzubauen. Ein resilientes Leben bleibt vor Krisen nicht gefeit – aber es wird sie leichter bewältigen. Aus den herumliegenden Steinen des eingestürzten Gebäudes wird voller Zuversicht ein neues, stabileres errichtet.

 

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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