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Ich bin in Neustadt/Holstein aufgewachsen, in unmittelbarer Sichtweite des Hafens. So habe ich als Kind und als Heranwachsender in den 1960er und 1970er Jahren den beginnenden Wandel vom Wirtschaftshafen zum Freizeitareal mitbekommen, der bis heute anhält – eines Wandels, bei dem im wahrsten Sinn des Wortes kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Einen vorläufigen Höhepunkt findet dieser Prozess in der aktuellen Umgestaltung der Hafenwestseite.

Der Fischerei- und Handelshafen Neustadts wandelt sich in der Weise, dass dort, wo vor nicht allzu langer Zeit Fischer ihre Fänge anlandeten und ihre Netze flickten, wo zahllose Buchenstämme und Tausende Tonnen von Getreide verschifft wurden, Leute nunmehr ihre Freizeit verbringen. Sie posten stimmungsvolle Hafenfotos auf Instagram und genießen dazu ein Bier oder einen Cocktail aus der Hafengastronomie. Diesen Wandel wollen wir nicht beklagen, wohl aber registrieren. Und wir sollten über ihn nachdenken.

Die verschwundene Fischereiflotte

Der Hafen Neustadts war in den 1960er und 1970er Jahren ein Fischerei- und ein Handelshafen – also das, was er in der fast 800-jährigen Stadtgeschichte immer gewesen war. Die gegen Kriegsende aus den östlichen Teilen des Deutschen Reiches in den Westen herübergeretteten großen Fischkutter waren hochseetauglich und betrieben nicht die für die südwestliche Ostsee typische Küstenfischerei, sondern drangen bis in die Fanggebiete um Bornholm vor. Die in ihren besten Zeiten wohl an die zwei Dutzend oder mehr Schiffe umfassende Neustädter Kutterflotte reduzierte sich im Laufe der Jahrzehnte drastisch, bis schließlich nur noch einige wenige Schiffe übrigblieben, die als Angelkutter touristischen Zwecken dienten.

Die Gründe für den Schwund waren vielfältig: Der Zustand der meist aus den 1920er und 1930er Jahren stammenden Schiffe verschlechterte sich mit der Zeit, der Instandhaltungsaufwand wuchs. Auch die Fischer wurden älter – Nachwuchs fand sich in diesem ebenso anstrengenden wie gefährlichen und nicht übermäßig prestigeträchtigen oder einträglichen Beruf kaum. Gleichzeitig änderte sich auch der Fischgeschmack der Verbraucher – statt Dorsch, Hering und Scholle verlangte die Kundschaft zunehmend nach nicht in der Ostsee heimischen Meeresgetier. Zu guter Letzt mögen seit den 1980er Jahren auch reduzierte Fangquoten eine Rolle gespielt haben. Die Fischkutter lagen an der östlichen Hafenseite, also am Rand der Neustädter Altstadt. Heute liegen hier vor allem – neben einigen kleineren Fischerbooten für die Küstenfischerei – stylische Motoryachten und sportliche Segelyachten sowie auch ein paar hölzerne Traditionssegler, die vor rund hundert Jahren oder länger Transport- und Fischereizwecken gedient hatten. Diese alten Arbeitstiere der Seefahrt sorgen nun, ihres ursprünglichen Zwecks längst ledig, für touristisches Flair, dienen teils auch der maritimen Freizeitgestaltung. Die Relikte harter Arbeit werden zu Schaustücken mit Wohlfühlcharakter. Man könnte das pervers nennen. Oder zumindest geschichtsvergessen.

Mehr Wandel als Handel

Gegenüber an der westlichen Hafenseite wurden vor allem Holz und Getreide sowie seit den späten 1920er Jahren auch Dosenmilch umgeschlagen – viele Güter aus dem landwirtschaftlich geprägten Ostholsteiner Raum verließen den Neustädter Hafen auf Schiffen. Im Gegenzug wurden zum Beispiel Bleche für die Dosenmilchfabrikation und Kohle angelandet. Entlang der westlichen Hafenseite zeugten bis in die Gegenwart hinein Holz- und Kohlelagerschuppen und Getreidesilos von dieser Tradition.

Dieser Handel verlor mit den Jahren stetig an Bedeutung. Seit den 1970er Jahren wurde die Hafenwestseite zunehmend touristisch genutzt, etwa durch die sogenannte Butterdampfer, auf denen zollfreier Einkauf möglich war. Zeitweise gab es auch einen Fährverkehr nach Bornholm.  Zu Beginn der 1990er Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, erlebte die Hafenwestseite noch einmal einen Aufschwung des Handels: Auf umgebauten großen Fischtrawlern aus der alten UdSSR, die zuvor auf allen Weltmeeren im Einsatz gewesen waren, wurden massenhaft deutsche Gebrauchtwagen ostwärts verschifft.

Design und Dienstleistungen sind nett…

Auch das aus den 1920er Jahren stammende Produktionsgebäude der Glücksklee-Dosenmilchfabrik erstreckt sich entlang eines Teils der Hafenwestseite. Hier werden jedoch längst keine Milchdosen mehr befüllt. Heute finden sich dort u. a. Gastronomiebetriebe, Ateliers und Büros – ein Mix aus Wohlfühlangeboten, Design und moderner Dienstleistung.

Seit einigen Jahren nun geht es auch den anderen Relikten des Handelshafens an den Kragen: Die Lagerschuppen sind nach und nach verschwunden, die Getreidesilos werden abgebrochen oder umgebaut, künftig werden hier wohl vor allem kulturelle, soziale und touristische Einrichtungen entstehen, bereichert um einen zum Verweilen einladenden treppenähnlichen Ausbau des Kais sowie zwei zusätzliche für Fußgänger und Radfahrer konzipierte Hafenquerungen. Der Charakter des alten Fischerei- und Handelshafens geht dabei endgültig verloren. Der Hafen wird zum Freizeitort, zur Kulisse für TV-Produktionen („Küstenwache“) und zur Location für die Selbstinszenierung in den Sozialen Medien. Dieses Schicksal teilt Neustadt mit anderen holsteinischen Ostseehäfen.

Die östliche Hafenseite Neustadts – also der ehemalige Fischereihafen – verlängert sich seewärts durch eine Promenade, die schon vor längerem den sogenannten Kunstkilometer beherbergt. Hier stehen wie zufällig hingestreut mehr oder weniger seltsame Objekte, über deren künstlerischen Wert man streiten könnte. Doch darauf kommt es gar nicht an – es geht hier weder um Ästhetik noch um Kultur, sondern wiederum um das Wohlfühlerlebnis: ein paar Kunstwerke, eine frische Brise und ein vielleicht nicht ganz so frisches Fischbrötchen (der Fisch stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit nämlich nicht aus der Ostsee, sondern hat seinen Weg über Frankfurt Airport – heute Europas größter Fischereihafen – aufs Neustädter Brötchen gefunden) fügen sich zu einem harmonischen Ganzen des touristischen Erlebens.

… aber sie garantieren nicht unser Überleben     

Es natürlich schön, wenn der Mensch so viel Zeit hat, seine Freizeit am Wasser zu genießen. Doch der Wohlstand der Nationen wurde im Wesentlichen weder durch Tourismus noch durch Dienstleistungen, sondern durch Produktion lebenswichtiger und hochwertiger Güter geschaffen und gesichert. Neben dem Tourismus ist heute vor allem der Gesundheits- und Betreuungsmarkt prägend für Neustadt: Neben zwei großen von privater Hand betriebenen Kliniken und mehreren Pflegeeinrichtungen finden sich hier zahlreiche niedergelassene Ärzte sämtlicher Fachrichtungen. Wie die Wohlfühlwirtschaft schafft auch der Gesundheitsmarkt keine echten Werte – er ist ein sekundärer Markt, der von dem lebt, was zuvor irgendwie erwirtschaftet wurde – beides muss man sich also leisten können. Parallelen zur sogenannten Energiewende sind unübersehbar: Hier wie dort trennt man sich von allem, was das langfristige Überleben eienr Volkswirtschaft ermöglichen würde, zugunsten illusorischer, emotional aufgeladener Visionen.

Produziert wird heute vor allem in Fernost. Dort sind die Häfen denn auch noch Wirtschaftshäfen geblieben und keine Amüsier- und Fressmeilen mit pseudokulturellem Anspruch geworden.

Foto: Postkartenmotiv Neustädter Hafen, späte 1950er/frühe 1960er Jahre

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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