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Der eigentlich verplante Vormittag ist jäh zu einem freien geworden – ein Termin fiel kurzfristig aus. Leider ist das Wetter nicht so, dass ich die unverhofft gewonnene Freizeit draußen verbringen möchte. Also im Haus was Nützliches erledigen – etwas, was man sonst immer gern aufschiebt? Mein Blick fällt auf eines der überfrachteten Bücherregale. Lange nicht mehr entstaubt.

Verstaubt – und doch aktuell

Im obersten Regalbrett – nur weniger Zentimeter von der Zimmerdecke entfernt – stoße ich auf eine reich bebilderte Studie des Historikers Karlheinz Weißmann: „1914 – Die Erfindung des häßlichen Deutschen“. Kling interessant. Was war das nochmal? Der beeindruckenden Staubschicht nach zu urteilen habe ich das Buch seit seinem Erwerb (Erscheinungsjahr 2014) nicht mehr in der Hand gehabt. Ich lasse das Staubtuch fallen und beginne zu blättern. Der hier in Wort und Bild vorgestellte hässliche Deutsche war das Deutschenbild der feindlichen Propaganda im 1. Weltkrieg. Weißmann stellt das recht überzeugend dar. Die Bilder zeigen grotesk verzerrte feiste Gesichter mit Menschenfresserzähnen, arrogante Monokelträger, Bestien in Uniform.

Hässlichkeit, wohin man schaut

Der hässliche Deutsche muss aber über das Kriegsende 1918 hinaus fortbestanden haben – ich kenne ihn nämlich noch aus meiner Kindheit bzw. Jugend. Im Geschichtsunterricht und in den Medien, sofern sie die deutsche Vergangenheit aufarbeiteten, war der hässliche Deutsche der Nazideutsche, der in dünkelhafter Großmannssucht über den Rest der Welt herfiel und Zerstörung und Leid über seine Nachbarn brachte.

Aber auch das Kriegsende 1945 hat er irgendwie überlebt, man begegnete ihm im Straßenbild und beim Sonntagskaffee im Verwandtschaftskreis. Der hässliche Deutsche trug in den 70ern und 80ern längst keine Pickelhaube und auch keine Hakenkreuzbinde mehr. Er war der Landsmann, der sich im Ausland nicht zu benehmen wusste. Der unsensible Großkotz. Der grölende alkoholisierte Fußballfan. Der Ewiggestrige. Der Mensch ohne Sinn für Ästhetik und Menschlichkeit, der alles Andersartige hasste.

Ich las damals „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Der nach oben buckelnde und nach unten tretende, sich stets als Träger einer höheren Moral wähnende deutschnationale Diederich Heßling war der Prototyp des hässlichen Deutschen in literarischer Gestalt. Der hässliche Deutsche Heßlingscher Prägung war konservativ, rechts, national – und berief sich auf Gott, Kaiser (später ersatzweise den Führer), Vaterland.

Die Hässlichkeit wechselte die Farben

Und heute? Heute hat der hässliche Deutsche einen verblüffenden Gestaltwandel vollzogen. Längst hat er den deutschnationalen Habitus abgelegt. Gott, Kaiser (ersatzweise der Führer) und Vaterland sind ihm schnurz. Er hasst all dies sogar aus tiefster Seele. Und doch ist er nach wie vor hässlich. Wie damals beruft sich deutsche Hässlichkeit auf eine höhere Moral. Sie heißt nur anders: „Klimaschutz“, „das Gute“, „Rettung der Erde“ und was dergleichen mehr ist. Vorgetragen wird diese ins Religiöse überhöhte Moral mit ebenso eifernder wie geifernder Inbrunst, voller Hass und Vernichtungswillen gegen alle Zweifler.

Man erkennt den heutigen hässlichen Deutschen wie seine Vorfahren zuverlässig am gern wieder auch in Richtung Ausland erhobenen Zeigefinger. In Farben gesprochen: Der hässliche Deutsche unserer Tage ist nicht schwarzweißrot, er ist nicht braun, er ist – – – grün. Hässlich machen ihn eine überhöhte Moral, Geltungssucht und der Hass gegen alles, was anders denkt und fühlt.

Nach dieser erheiternden Erkenntnis stelle ich das Buch ins Regal zurück und greife wieder zum Staubtuch.

 

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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