Plötzlich ist es da: Das Ereignis, mit dem niemand ernsthaft gerechnet hatte.…
Ist Empathie gut oder böse? Auf jeden Fall ist Empathie eine Art Zauberwort oder Trumpfkarte in der Kommunikation: Beklage ich mangelnde Empathie meines Gegenübers und fordere von ihm mehr Empathie ein, punkte ich automatisch. Da mag die Position des anderen noch so stichhaltig, seine Motive mögen noch so lauter sein – die Anklage, nicht empathisch genug zu sein, ist ein leicht zu handhabendes scharfes Schwert und wird entsprechend oft missbraucht.
Empathie ist doch wünschenswert, oder?
Der eigentliche Missbrauch des Begriffs Empathie geschieht jedoch nicht durch dessen häufige und oft unberechtigte Nutzung. Die eigentliche Gefahr steckt in der Empathie selbst. Gemeinhin verstehen versteht man unter Empathie: Sich in die Lage des anderen zu versetzen, die Welt mit dessen Augen zu sehen, um die Gefühle des anderen und seine Motivation besser verstehen zu lernen.
Empathie wird als Einfühlen oder Mitfühlen gedacht (wobei dem Wortsinn nach nur Einfühlung korrekt ist – Mitfühlung wäre Sympathie). Mit einem anderen Menschen zu fühlen, einfühlsam oder mitfühlend zu sein, Einfühlungsvermögen Mitgefühl zu zeigen – was sollte daran verkehrt sein? Mitfühlend zu sein ist doch zutiefst menschlich, positiv und konstruktiv. Oder?
Empathie: Ein zweischneidiges Schwert
Die Gefühle des anderen zu kennen, Einfühlungsvermögen zu zeigen, das macht einen angenehmen, freundlichen Umgang erst möglich. Doch Empathie hat auch ein anderes, ein erschreckendes Gesicht. Empathie ist der Schlüssel zum Bewusstsein des anderen – bin ich einfühlsam, zeige ich mich mitfühlend, öffnet sich der andere, offenbart mir seine Gefühle, macht sich verletzbar. Bin ich erst einmal dort, im tiefsten Inneren des Gegenübers, angelangt, kann ich die Kontrolle über ihn übernehmen und ihn – immer auf seine Gefühle eingehend, sie berücksichtigend – fortan nach Belieben lenken und für meine Zwecke nutzen.
Es gibt nicht wenige Naturen, die so vorgehen – sie pirschen sich an ihr ausersehendes Opfer heran, schleimen sich mit einfühlenden Worten ein, bringen den anderen in Abhängigkeit und beuten ihn dann nach Belieben aus. Was hinter der Fassade der Einfühlung stattfindet, ist eine feindliche Übernahme. Möglich wird sie durch den Bewusstseins-Hack der Empathie. Empathie in dieser Lesart ist Manipulation in Reinkultur.
Ist Empathie nun gut oder böse? Grob gesagt, hab wir es mit einer gutartigen und einer bösartigen Form von Empathie zu tun (hier lohnt sich die Lektüre von David Schnarch „Brain Talk“). Das Problem ist, dass die gutartige Form der Empathie oft genug der Deckmantel ist, unter dem die bösartige, im höchsten Maße manipulative Form der Empathie als Waffe geführt wird. Um das sicher zu erkennen, braucht es einiges an Menschenkenntnis. Vielleicht sollten wir auch ganz einfach aufhören, Empathie zu vergötzen. Und erst recht sollten wir sie nicht andauernd einfordern.
Foto: Lutz Meyer