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Es gibt eine Reihe von Übereinkünften, die seit mindestens zweieinhalbtausend Jahren das abendländische und später das westlich-globale Denken geprägt haben. Vor allem die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften und der neuzeitlichen Technik wäre ohne ihre Kenntnis und Beachtung kaum möglich gewesen.

Denkgesetze

Die Rede ist vom Satz der Identität, vom Satz vom verbotenen Widerspruch sowie vom Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Diese Denkgesetze gelten explizit für physikalisch objektivierbare Zustände: etwas ist oder ist nicht; was ist, kann nicht zugleich wahr und falsch sein, sondern nur eins von beiden; ein Drittes neben wahr und falsch gibt es nicht. Aristoteles hat diese Denkgesetze erstmals formuliert, man spricht deshalb auch von der aristotelischen oder zweiwertigen Logik – zweiwertig, weil es eben immer nur zwei Möglichkeiten gibt: Wahr oder Falsch, Sein oder Nichtsein, Ja oder Nein. Und noch etwas ist wichtig: Treffe ich Aussagen über einen Zustand A zum Zeitpunkt x, dann gilt die Aussage keineswegs nur für den Jetztpunkt, an dem ich diese Aussage tätige, sondern die Aussage kann zu einer Naturgesetzlichkeit erhoben werden.

Sein und Werden

Nun ist der Zustand der Natur aber kein unabänderlicher – alles ist in permanenter Bewegung. Und je nachdem, wann und von welchem Standpunkt aus ich einen Zustand beschreibe, kann das Urteil so oder anders ausfallen. Was zum Zeitpunkt x als „wahr“ gilt, kann sich zum Zeitpunkt y als „falsch“ oder „nicht wahr“ erweisen. Das zeigt sich allerdings vor allem in der Alltagserfahrung. Hier – im vorwissenschaftlichen Erleben der Welt – scheint vorrangig ein anderer, noch deutlich älterer philosophischer Grundsatz zu gelten, ohne dass man sich dessen bewusst ist oder bewusst sein müsste: Das Panta rhei des Heraklit – alles fließt, wir baden in einem beständigen Strom des Werdens und Vergehens, Sein konstituiert sich gleichsam als Inbegriff steten Nichtseins. In einem solchen Strom des Werdens lassen sich kaum verlässliche naturwissenschaftliche Aussagen von zeitloser Gültigkeit treffen – es sein denn, man würde den Begriff der Wissenschaftlichkeit ausweiten, wie es im 20. Jahrhundert tatsächlich auch geschehen ist.

Totes und Lebendes

Die naturwissenschaftliche Sichtweise, so ein früher Vorwurf, befasse sich mehr mit der unbewegten, toten Materie als mit dem Leben und seiner Prozesshaftigkeit. In der klassischen Naturwissenschaft werden Prozesse natürlich auch wahrgenommen, doch sie werden wiederum als etwas Unabänderliches, Konstantes behandelt. Der Vorwurf, sich nicht genügend auf das Leben einzulassen, ist insofern berechtigt, als auf dem Höhepunkt der klassischen naturwissenschaftlichen Systeme auch menschliches Verhalten ausschließlich als etwas Fixiertes, Starres wahrgenommen wurde – wer sich nicht an die geltenden Regeln von „wahr“ oder „falsch“ hielt, wurde schnell als von der Norm abweichend, als unnormal und schließlich als krank und behandlungsbedürftig stigmatisiert. Das dauert bis heute an.

Kunst, Rausch, Traum

In einem Lebensbereich gelten andere Regeln – in der Kunst. Als Maler, Dichter, Bildhauer oder Komponist durfte man die Welt schon immer ein wenig anders sehen, sofern keine Religion den Anspruch auf die Richtigkeit ihrer Glaubensgrundsätze erhob, denen zufolge es statt „wahr“ oder „falsch“ eben „gut“ oder „böse“ hieß und das Böse allzeit zu verurteilen war. Daneben aber galten die naturwissenschaftlichen Denkgesetze zunehmend als eherne, dogmatische Festschreibungen, die auch das Alltagserleben in ein oft allzu enges Korsett pressten.

Doch es gibt einen weiteren Bereich, in dem die Denkgesetze der Logik nicht gelten – im Rausch. Nun könnte man den Rauschzustand als Ausnahme und Abweichung von der Normalität bezeichnen, als Störung. Gleiches würde auch für den Traum gelten, in dem die klassische Logik ebenfalls außer Kraft gesetzt ist. In der Kombination von der Anwendung berauschender Substanzen und Traumzuständen stellen sich dann die Flugträume ein, von denen in frühneuzeitlichen Hexenprozessen so oft die Rede gewesen ist. Die Flugträume galten als real – den beschuldigten Hexen ebenso wie den verhörenden Hexenkommissaren.

Mehrwertige Logik

Im 20. Jahrhundert kam dann die sogenannte mehrwertige Logik auf, die zusätzlich bzw. in Ergänzung zur zweiwertigen Logik (deren Geltung nicht bestritten wurde) eine andere Denkweise etablieren wollte, der zufolge es nicht nur „wahr“ oder „falsch“ gibt, sondern eine unendliche Zahl anderer Möglichkeiten. Gestützt wurde dies durch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie die Heisenbergsche Unschärferelation. Das enge Korsett des Denkens wurde gesprengt, der Horizont des Denkbaren wurde erheblich erweitert. Nicht umsonst befasste sich einer der Pioniere der mehrwertigen Logik, Gotthard Günther, intensiv mit Science Fiction, einer Literaturform, in der bislang als undenkbar Geltendes plötzlich denkbar und vorstellbar und damit auch in gewisser Weise real wurde. Schaut man sich heutige SciFi-Produktionen auf der Großleinwand in 3 D an, gerät die Unterscheidung zwischen vorgestellter bzw. künstlich erzeugter und vertrauter Welt ins Wanken. Die Grenzen werden fließend, durchlässig.

VUCA-Welt und Ausweg

Was sich als wohltuende Befreiung des Geistes und enorme Ausweitung der Denkmöglichkeiten darstellt, hat allerdings auch eine Negativseite. Die systemsprengende Kraft der mehrwertigen Logik eignet sich zur psychologischen Kriegsführung. Denn von der mehrwertigen Logik führt ein gerader Weg in die VUCA-Welt, also jenes zunehmend volatiler, unsicherer, komplexer und mehrdeutiger werdende organisierte Chaos der Gegenwart. Damit sei nicht unterstellt, dass Denker wie Gotthard Günther böse Absichten hegten. Aber es ist nun einmal so, dass auch gut Gemeintes rasch ins Gegenteil umschlagen kann.

Dass die gegenwärtige Welt chaotisch ist, zur Auflösung aller bislang geltenden Prinzipien neigt und neue Formen des Mit- bzw. Gegeneinanders und Überzeugungen entwickelt, die man vom Standpunkt des klassischen Denkens aus nur als verrückt bezeichnen kann, lässt sich derzeit bei unzähligen Gelegenheiten studieren. Allerdings sollte man sich vom konservativen Standort aus davor hüten, die mehrwertige Logik, nur weil sie sich missbrauchen lässt, in Bausch und Bogen zu verwerfen. Weitaus sinnvoller wäre es, ihre missbräuchlichen Auswüchse zu bekämpfen und neben der mehrwertigen Logik die unveränderte Gültigkeit der zweiwertigen, klassischen Logik zu betonen. Erst in der Synthese wird sich etwas fruchtbar Neues ergeben.

 

Foto: Lutz Meyer

 

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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