Bilder nimmt man mit den Augen wahr, nicht mit den Ohren. Doch…

Wege haben wir heute so viele, dass wir uns ohne Wegeleitsystem nicht einmal mehr in großen Gebäuden zurechtfinden würden. Neben den Wegen, auf denen wir täglich unterwegs sind, gibt es Wege des Geistes. Sie sind anderer Art. Während die ersten gut ausgeschildert sind, führen Wege des Geistes in die Wildnis.
Wege in der Landschaft
Am Anfang war nur weglose Wildnis. Nach und nach entstanden, wo Menschen unterwegs waren, Wege. Schmale Pfade, häufiger begangen von Wildbeutern und Sammlern. Später dann, nach der Sesshaftwerdung des Menschen, bildeten sich Handelsrouten wie der alte Ochsenweg von Jütland zur Elbe oder die alte Seidenstraße. Außerdem die Heerwege, später dann auch auf den Meeren und in der Luft die ausgebauten Verkehrsrouten. Ein Netz von Wegen überzieht heute die Erde und dringt selbst in die entlegensten Winkel vor. Doch nichts ist ewig: Wege, die nicht mehr genutzt werden, verschwinden wieder. Die Wildnis als das Unwegsame ist immer da. Diese Wildnis ist die Urheimat des Geistes.
Wege im Geist
Der Geist des Menschen ist im Beginn Wildnis. Erst nach und nach entstehen Wege: durch elterliche Vorbilder, durch Lernen, Arbeit und Alltag. Die meisten dieser geistigen Wege gleichen breiten, mehrspurigen Asphaltpisten. Sie führen direkt von A nach B, ohne Umwege. Dafür sorgt ein allumfassendes System der Wegeplanung, das niemanden vom vorgezeichneten Weg abkommen lassen möchte. Verlässt man einen dieser großen Wege, dann nur, um auf weiteren ausgebauten Wegen die Orte C, D und E zu erreichen. Was abseits der Wege ist, interessiert den an der Alltagsbewältigung ausgerichteten Geist nicht. Es soll ihn auch nicht interessieren, denn dort liegt die Wildnis, die Wildnis des Geistes. Sie ist der Gegensatz zu allem Geplanten. Deshalb ist sie gefährlich.
Doch es gibt Geister, die sich auf dem Asphalt nicht wohl fühlen. Lieber spüren sie taufeuchtes Gras oder nackte Erde unter ihren Füßen. Sie schätzen es auch nicht, auf schnellstem Wege von A nach B zu kommen. Wozu auch? Sie haben keine Eile. Sie mögen das Unwegsame. Sie bahnen sich ihren eigenen Weg ins Unzugängliche. Es sind die kreativen Geister, neugierig auf die Welt abseits der Straßen und Schienen. Getrieben von einer Sehnsucht nach dem Freien.
Ihr Blick richtet sich auf dieses ferne Freie, das andere kaum sehen können. Die Wege des kreativen Geistes sind auch nicht für die anderen gedacht. Sie finden sich auf keiner Landkarte, in keinem Navigationssystem. Und doch sind sie die wichtigsten Wege überhaupt. Denn der Drang zur Erkundung des Unbekannten fernab aller Sicherheit ist das, was den menschlichen Geist auszeichnet.
Wegkreuzungen und Treffpunkte
In der Welt des Alltags gibt es Wegkreuzungen, Weggabelungen. Sie sind ausgeschildert, so dass klar ist, welcher Weg wohin führt. Irrtümer sind hier nicht gewollt. Der kreative Geist aber kommt ohne Hinweisschilder aus. Solche Kreuzungen und Gabelungen schafft er sich zuweilen selbst, weil Geradlinigkeit nicht unbedingt seine Sache ist. Richtungsanzeiger braucht er nicht. Seinen Weg kennt nur er. Dieser Weg ist durch nichts vorgegeben, oft scheint die Richtung aus einer Augenblickslaune heraus gewählt zu werden. Wahrscheinlich aber spricht sich in dieser Laune etwas Tieferes aus: die Stimme der Wildnis.
Dennoch ist der kreative Geist nicht allein. Andere schöpferische Menschen sind ebenfalls unterwegs in der Wildnis. Immer wieder kommt es vor, dass sie einander begegnen. Ist es Zufall, ist es Fügung? Solche Begegnungen können dazu führen, dass schöpferische Menschen eine Weile als Gefährten gemeinsam unterwegs sind. Mintunter kann es eine sehr lange, eine lebenslange Weile sein, ohne dass es jemals langweilig wird. Doch selbst in solchem Miteinander bleibt es immer der eigene Weg.
Foto: Lutz Meyer