Wege haben wir heute so viele, dass wir uns ohne Wegeleitsystem nicht…

Lost Places üben eine gewisse Faszination aus. Es ist fast so, als würden sie eine eigene Sprache sprechen. Man steht ganz still, erfüllt von einem inneren Kribbeln, und lauscht dem Flüstern: Was hat dieser Ort zu berichten? Wer ist hier frühergegangen? Warum? Wann? Was haben diese Menschen erlebt? Wer waren sie? Und welche unsichtbaren Spuren haben sie hinterlassen?
Neulich bin ich durch Zufall in einen Lost Place gestolpert. Eine schicke, neue Treppe führte einen Wall hoch, auf dem früher Bahnschienen gelegen haben. Ich hatte erwartet, vor einem verschlossenen Zaun zu stehen und in ein Gelände zu blicken, das für die Öffentlichkeit gesperrt ist: halb hergerichtet als Fahrrad- und Fußweg, halb Baustelle. Stattdessen war der Zaun geöffnet und ich blickte auf eine Landschaft, die in mir Erinnerungen an „Planet der Affen“ weckte. Oder an eine Welt, in der die KI die Herrschaft übernommen hat – und die Menschheit in einer Dystopie zurückgelassen hat.
Entlang der ehemaligen Gleistrasse standen noch Reste der Anlagen: verlassene Bahnwärterhäuschen, kaputte Signalleuchten, ausgeweidete Eisenschränke. Abschnittsweise hatten Birken und Brombeersträucher bereits alles überwuchert.

Das Krümelmonster war auch schon da
In der Ferne hörte man das Rufen und Lachen Jugendlicher, in der Nähe ein paar Vögel und von unten schallten die Geräusche des Straßenverkehrs hoch. In einem Häuschen entdeckte ich schließlich die Spuren derjenigen, die vor mir an diesem seltsamen Ort gewesen waren. Jemand hatte ein Notizbuch für Nachrichten hinterlassen, andere hatten die Wände mit Erinnerungen an Kindertage verziert. Ich fand den kleinen Maulwurf gleich mehrfach, dazu das Krümelmonster und angemalte und verzierte Pappkartons sowie Klopapierrollen. Jeder, der hier gewesen war, hatte etwas Persönliches hinterlassen – und sei es nur ein Spruch in dem Notizbuch. Zerbrochene Flaschen, Zigarettenkippen und Dosen entdeckte ich hingegen nur vereinzelt. Schon alleine deshalb war der Ort etwas Besonderes. Was ihn früher ausgemacht hat war nicht mehr zu erkennen – aber dafür das, was ihn jetzt prägte. Nämlich Entdeckertum und eine beinahe kindliche Freude darüber, einen Ort gefunden zu haben, den nur wenige kannten – und von dem die meisten Menschen unten auf den Straßen nichts ahnten.
Darum verrate ich an dieser Stelle auch nicht, wo dieser Lost Place liegt. Möge er noch länger verloren sein für das große Publikum und seine Geschichten nur denjenigen ins Ohr wispern, die wissen, wo er sich verbirgt.
Fotos: Nicole Hein