Skip to content

Für gewöhnlich nehmen die Erfordernisse des Alltags uns so sehr gefangen, dass wir allenfalls im Traum andere Welten betreten. Oder im Rausch. Aber geht das auch im nüchternen Alltag?

Es war zwar noch Februar, dennoch geriet ich in richtiges Aprilwetter: Sonne, Regen, Sturmböen, Graupel im jähen Wechsel. Auf dem Asphaltweg hatte sich eine Pfütze gebildet. Ich blieb stehen, betrachtete das Spiegelbild. Ein Baum am Wegrand stand kopfüber. Es war der Baum und doch war er es nicht. Ein flüchtiges Abbild, das sich mit jedem Schritt, den ich näherkam, weiter verwandelte und endlich ganz verschwand.

Ich blieb mitten in der Pfütze stehen, in der sich nun die Weiten des Himmels spiegelten. Ich war in einer leicht meditativen Stimmung und spürte, wie mich etwas in das Spiegelbild hineinzog. Tiefer und tiefer. Ich befand mich an einem anderen Ort, fernab vom Hier und Heute.  Ein kurzer Alice-in-Wonderland-Moment nur. Ein plötzlicher Windstoß riss mich in die Realität zurück.

Ein alltäglicher, aber keineswegs unbedeutender Vorgang. Denn er zeigt, dass es nur kleiner Ereignisse bedarf, um in eine andere Welt einzutreten. Dieses Eintreten, dass vor allem ein Wegtreten aus dem Alltag ist, zählt für mich zu den wichtigsten Fähigkeiten des Geistes überhaupt.

Indem ich mich von einem zu lösenden Problem wegdenke anstatt mich systematisch hineinzudenken, nehme ich eine Position im Außerhalb an. Von dort aus betrachtet, eröffnet sich sofort eine andere Perspektive. Die Dinge und ihre Ordnung liegen klarer vor mir als in einem rational-analytischen Zugriff. Die Lösung des Problems stellt sich oft blitzartig ein – oft von überraschender Einfachheit und Schlichtheit.

Das Wegtreten, das Wegdenken ist die Urkraft schöpferischen Denkens, der Keim der Kreativität. Um dieses schöpferische Wegdenken einzuüben, ist Bewegung hilfreich: Weg vom Schreibtisch, weg aus dem Meeting, raus in die Natur. Mit jedem Schritt, den ich gehe, entferne ich mich von der Verstrickung in das zu lösende Problem. Und mit jedem Schritt kommt die Erkenntnis, kommt die Lösung näher.

 

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

Dieser Beitrag hat 0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar