Skip to content
Grau ist die Karibik an der KIeler Förde

Grau ist vielen Menschen unangenehm. Grau gilt als langweilig, bürokratisch, alt und langweilig. Ein grauer Himmel kündigt meist Regen an. Als ich gerade einige Tage bei überwiegend bedecktem Himmel und gelegentlichem Regen in Kiel verbrachte, entdeckte ich ganz neue Dimensionen der Farbe Grau.

Seichtes Blau, tiefes Grau

Wie heute vielerorts üblich, versuchen auch die Gastronomen an der Kieler Förde mithilfe von Palmen eine Art Karibikflair zu erzeugen. Das übliche Karibikbild lebt von türkisblauem Himmel, kräftig leuchtendem vegetativem Grün, bunt gekleideten Menschen und bunt bemalten Häusern, in der Ferne vielleicht ein weißes Kreuzfahrtschiff. Doch Karibik ist nicht nur schönes Wetter, Karibik kann auch grau. Etwa wenn ein Tropensturm naht, tobt oder wieder abzieht. Selbst die Palme vor der Kieler Seebar am Seebad Düsternbrook wirkt vor grauem Himmel viel authentischer als vor strahlend blauem Himmel. Hier kommt ihr grüne Leuchten mehr von innen her, nicht durch den direkten Einfluss des Sonnenlichts.

Ähnliches beobachtete ich einige Meter weiter beim Klatschmohn vor grauem Himmel. Vor blauem Himmel wäre es fast schon kitschig gewesen. So aber hat der Mohn eine viel stärkere Präsenz. Der blaue Himmel verursacht zwar ein leichtes, unbeschwertes Lebensgefühl, aber es bleibt an der Oberfläche. Vor grauem Himmel verströmen selbst die kräftigsten Farben einen Anflug von Melancholie und Ernst. Das Leben wird in seiner Tiefe erfasst.

Mohn an der Kieler Förde

Meergrau, Hort aller Farben

Ein Meister der Grautöne ist das Meer. Natürlich hat auch das herrlich tiefe Stahlblau, in dem die Ostsee sich bei schönem Wetter zeigt, etwas Einnehmendes. Aber die breite Palette von Grautönen bei wolkigem Himmel oder die leichten Zwischentöne zwischen Grau und Lichtgrün, wenn sich doch mal ein Sonnenstrahl zwischen den Wollen hindurchschiebt, ist einmalig schön.

Taucht man ins Wasser ein, verlieren sich die Farben nach und nach, alles Bunte nimmt eine blaugraue Färbung an um danach in farbloser Dunkelheit zu versinken. Mit jedem Meter, den man sich wieder der Oberfläche nähert, nimmt die Farbintensität zu. Das oft grau erscheinende Meer ist der Hort aller Farben. Dies zeigt sich an der Grenze der Elemente, wo Wasser und Luft sich begegnen und das Licht hinzutritt.

Graulichtgrüne Stimmung bei Heidkate

Grau lässt Farben stärker leuchten

Grau als Umgebungs- oder Untergrundfarbe lässt auch blasse Farben viel lebendiger, differenzierter wirken. Wenn Goethe seinen Mephisto sagen lässt, dass alle Theorie grau, grün aber des Lebens goldner Baum sei, so heißt dies nicht, dass alle Theorie abzulehnen sei. Es ist vielmehr so, dass die Theorie über das Leben niemals das Leben selbst erreichen oder abbilden kann. Aber sie kann manche Phänomene des Lebens stärker ins Licht treten lassen und ihnen mehr Sichtbarkeit verleihen. Ähnliches geschieht bei Menschen, die uns auf den ersten Blick als grau und langweilig erscheinen mögen: Wer den sie umgebenden Grauschleier anzuheben vermag, stößt auf die Fülle des Lebens.

Bei Nacht sind alle Schneckenhäuser grau - anders bei Tag

Fotos: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.