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Den Stein, der eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kopfpartie eines Schlossgespenstes oder meinethalben auch mit der Kapuze eines praktizierenden Ku-Klux-Klan-Mitglieds hat, fand ich eines unschuldigen Sommertages am Strand bei Rettin an Ostsee.

Ich war vielleicht zehn Jahre alt, meine Phantasie war leicht erregbar. Dieser Stein ängstigte mich. Dennoch hob ich ihn auf und nahm ihn mit. Seither habe ich viele andere kleine Kinder damit erschreckt.

Mir war natürlich schon damals klar, dass ich kein versteinertes Gespenst gefunden hatte und die beiden augenähnlichen Abdrücke eben keine finster starrenden Augen waren, sondern Spuren kreidezeitlichen Lebens, die eine Laune der Natur in augenpaarähnlicher Konstellation arrangiert hatte, um Jahrmillionen später kleine Kinder zu ängstigen. Dennoch blieb eine gewisse Beunruhigung angesichts dieses seltsam starrenden Steines.

Augen sagen nicht alles

Auch in späteren Jahren nahm ich den Stein ab und an zur Hand und dachte über seine unheimliche Wirkung nach. Diese Wirkung beruht – ähnlich wie bei jeder Maskerade oder Verschleierung – darauf, dass man zwar eine Menschenähnlichkeit wahrnimmt, aber die mit diesem Wesen verbundene Stimmungslage nicht entschlüsseln kann. Droht Gefahr? Oder ist dieses Wesen lieb? Man sieht hier zwar immerhin die Augen, aber das reicht nicht immer. Erst dann, wenn wir das ganze Gesicht sehen, sind wir in der Lage, in unserem Gegenüber zu lesen wie in einem Buch.

Zwar sagt man, dass die Augen der Spiegel der Seele seien und ein Blick in sie uns schon einigen Aufschluss über den anderen geben. Doch erst der Gesichtsausdruck im Ganzen – der Blick auf den Mund und die Mimik – gibt uns die nötige Sicherheit, unser Gegenüber beurteilen zu können. Ein unschlagbares Argument gegen Vollverschleierung.

Natürlich kann man sich auch dann irren, wenn man das komplette Gesicht sieht. Schließlich beherrschen wir kaum etwas so gut, wie die Kunst der Verstellung. Der gern als Negativbeispiel für alles Mögliche herangezogene Gebrauchtwagenhändler, der uns übers Ohr haut, sieht nicht immer böse aus. Und selbst in langjährig vertrauten Menschen können wir uns täuschen – während wir ihnen nichts Arges zutrauen, führen sie uns in schöner Regelmäßigkeit hinter die Fichte.

Menschen sind also mitunter um nichts weniger unheimlich als Steine, die wie Menschen aussehen. Gespenstisch.

Fotos: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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