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Schreibschrift

Die Geschichte der Schrift beginnt auf Stein. Nämlich auf Höhlenwänden, auf denen sesshaft gewordene Stämme Botschaften über Menschen und Tiere hinterließen. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich Schreibgeräte, Materialien und Schriftzeichen immer wieder verändert. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts hatten schließlich fast alle Deutschen in der Volksschule eine lesbare Handschrift gelernt. Nur die sprichwörtlichen Arzthandschriften galten als unleserlich. Und heute? Blättert man in den Heften und Mappen von Schulkindern, so braucht man mitunter hellseherische Fähigkeiten, um das Geschriebene Wort für Wort zu entziffern.

Vor rund vier Jahren schlug der Deutsche Lehrerverband deshalb Alarm und gab eine Umfrage in Auftrag, um das Ausmaß des Schriftdesasters zu verdeutlichen: Insgesamt wurden 2002 Lehrkräfte aus 16 Bundesländern befragt, die feststellten, dass etwa 51 Prozent der Schüler und 31 Prozent der Schülerinnen Schwierigkeiten beim Handschreiben hatten. Aus Sicht der befragten Lehrer konnten nur etwa 29 Prozent der Kinder des fünften und sechsten Jahrgangs über eine Zeitspanne von mindestens 30 Minuten beschwerdefrei mit der Hand schreiben (Deutscher Lehrerverband, 2015). Nun stellt sich die Frage, ob die Kids das überhaupt noch brauchen: Am PC wird getippt und auf Smartphone und Tablet gewischt. Warum müssen die Kinder noch eine Handschrift lernen?

Die Zukunft beginnt nicht jetzt

Die Meinungen gehen tatsächlich auseinander. Während die einen die Tastatur als vollwertigen Ersatz sehen, argumentieren die anderen z. B., dass völlig andere Lernprozesse im Gehirn in Gang gesetzt werden, wenn man sich per Hand Notizen macht. So interessant das Abwägen von Pro und Contra auch ist: Für Kinder, die jetzt in Deutschland zur Schule gehen, ist die Diskussion nahezu irrelevant. Denn die Zukunft, die Lernen an Laptop, Tablet und Smartphone vorsieht, ist dort noch nicht angekommen. An der Grundschule meines Sohnes gibt es beispielsweise einen Klassensatz iPads für fast 400 Kinder, die allerdings derzeit keinerlei Anbindung ans WLAN haben (ab nächstem Schuljahr soll der Internetzugang dann in allen Klassenräumen sein). Da bleibt den I-Dötzchen also nichts anderes, als wie Generationen vor ihnen, das Schreiben von Buchstaben mit der Hand zu lernen. Schließlich liegen noch etliche Schuljahre vor ihnen, in denen sie Klassenarbeiten schreiben, Mappen handschriftlich führen und sich z. B. Hausaufgaben notieren müssen.

Lässt sich eine Handschrift nebenher lernen?

Allerdings entspricht es dem Zeitgeist, dass mühevolle Schwungübungen und Schreibtrainings den Kids von heute nicht mehr zumutbar sind. Der Stellenwert der Schriftvermittlung hat seit den Sechzigerjahren kontinuierlich abgenommen. In ihrem Buch „Wer nicht schreibt, bleibt dumm. Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen“, weist Maria-Anna Schulze Brüning darauf hin, dass Handschrift als Unterrichtsgegenstand inzwischen marginalisiert sei und auch in der Lehrerausbildung kein Thema mehr wäre. Während beispielsweise in den Richtlinien des Landes NRW 1991 dem Erlernen der Schrift noch vier Seiten inklusive konkreter Formvorgaben gewidmet worden wären, fände sich in den aktuellen Richtlinien nur noch ein knapper Passus, an dem sich ablesen ließe, wie Handschrifterwerb quasi nebenher erfolgen solle.

Das Ende der Schreibschrift

Mehr noch: Nicht nur nebenher, sondern auch kreativ selbst erarbeitet. Während mein älterer Sohn in der zweiten Klasse noch eine Schreibschrift (wenn auch nicht funktionierende) gelernt hat, durfte der jüngere für sich selbst erfinden, wie er seine handschriftlich gedruckten Buchstaben verbindet. Das ganze nannte sich Grundschrift und wurde in einem 64seitigen „Selbstlernheft für Verbindungen“ erprobt. Auch die Schreibweise einiger Buchstaben durfte er sich aussuchen: Wollte er z. B. zukünftig aus dem kleinen „l“, das wie ein Strich mit Haken aussieht, den nächsten Buchstaben schreiben, oder doch lieber das Schreibschrift „l“ mit der Schlaufe oben verwenden?

“Kinder, wisst ihr, was ich meine?”

Der letzte Text im Heft lautete: „Hätte dieses Heft zwei Beine, würde es jetzt gehen. Kinder, wisst ihr, was ich meine? Tschüss, auf Wiedersehen.“ War der schließlich abgeschrieben, sollte „eine der Druckschrift ähnelnde Schreibschrift“ sitzen und sich die Kids den Grundstein für eine individuelle Handschrift gelegt haben. Ich bin skeptisch. Meiner Meinung nach werden viele Kinder später eine funktionierende Handschrift haben. Doch es wird vermutlich auch einen großen Teil geben, der zum Start in die weiterführende Schule weder schnell genug noch lesbar schreiben wird. Ich glaube sogar, dass sich mit der Einführung der Grundschrift und dem Ende einer Schreibschrift in NRW die derzeitige Situation verschärfen wird. Noch mehr Kinder als jetzt werden in der weiterführenden Schule nicht in der Lage sein, ordentlich mitzuschreiben und längere Text zu verfassen. Obwohl das Grundvoraussetzung für den Erfolg in der Schule ist – jedenfalls so lange das computergestützte Schreiben in den meisten Klassenzimmern noch Utopie ist.

 

Foto: Nicole Hein

 

Nicole Hein ist freie Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Gesundheit, Steuern, Lebensart & Wohnen.

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