Als die Nationalsozialisten 1937 in der Ausstellung „Entartete Kunst“ Werke von Künstlern…
Die nackte Wahrheit zeigt die Tatsachen, wie sie sind. Unverhüllt und nicht beschönigt. Das Gemälde von Jean-Léon Gérôme stellt diese nackte Wahrheit vor unsere Augen. Es trägt den Titel „Die Wahrheit kommt aus ihrem Brunnen“ und stammt aus dem Jahr 1896.
Die nackte Wahrheit war nicht immer nackt
Das Gemälde geht auf eine kurze Erzählung zurück, der zufolge die Wahrheit und die Lüge eines heißen Sommertags über das Land gingen. Sie kamen an einen Brunnen. Die Lüge legte ihre Kleider ab, stieg in den Brunnen und rief: „Komm doch auch ins Wasser, liebe Wahrheit, es ist herrlich kühl und erfrischend!“ Die Wahrheit zögerte etwas, denn wenn die Lüge etwas sagt, muss es falsch sein. Doch in diesem Fall sprach die Lüge wahr. Und die Wahrheit tat es der Lüge nach und stieg ebenfalls in den Brunnen. Auch sie fand das Wasser überaus angenehm. Während die Wahrheit sich noch am kühlen Bad erfreute, stieg die Lüge aus dem Brunnen, schnappte sich die Kleider der Wahrheit, zog sie an und verschwand. Nun kam auch die Wahrheit aus dem Brunnen – und sah die Bescherung. Das Gemälde fängt ihren empörten Gesichtsausdruck ein. Die Lüge indessen zog fortan als Wahrheit verkleidet durch die Lande. Seither, liebe Kinder, wird die Lüge oft für die Wahrheit gehalten.
Die Wahrheit aber, was sollte sie tun? Die liegengelassenen Kleider der Lüge überstreifen und als Lüge verkleidet auftreten? Das kam für die Wahrheit nicht infrage, schließlich war sie ja die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Lieber ging sie nackt, wie sie war, und folgte der Lüge, um ihre Kleider wiederzubekommen. Die Lüge war ihr natürlich stets einen Schritt voraus.
Überall wo die nackte Wahrheit auftauchte, wollte niemand sie sehen – die Leute wendeten ihr Gesicht ab, manche wurden ausfallend, beleidigten und beschimpften sie. So stieg die Wahrheit wieder in den Brunnen hinab und verschwand in den Tiefen, wo niemand sie sogleich sehen konnte. Seither müssen die Menschen schon sehr tief forschen, wenn sie die nackte Wahrheit finden möchten.
Warum ist die nackte Wahrheit nicht gern gesehen?
Obwohl auf dem Gemälde durchaus angenehm proportioniert, löst der Anblick der nackten Wahrheit Angst und Schrecken aus. Denn die unverhüllten Tatsachen sind nicht immer angenehm. Ein Blick auf sie zerreißt Lebenslügen, erschüttert sicher geglaubte moralische Fundamente und bringt so manches aus den Fugen. Viel lieber mögen die Menschen die Lüge – sie schmeichelt, sie lockt, sie gaukelt und betrügt. Man glaubt ihr nur allzu gern, zumal sie ja das Gewand der Wahrheit trägt.
Warum hat die unverhüllte Wahrheit eine Peitsche?
Die Wahrheit steigt zwar unverhüllt aus dem Brunnen, in der Hand hält sie jedoch eine Peitsche. Die Peitsche ist ein wesentliches Attribut der Wahrheit, es zeigt an, dass die Begegnung mit der Wahrheit schmerzhaft sein kann. Die Peitsche zeigt aber auch, dass die Wahrheit die Menschen vor sich hertreibt, sie zwingen will, sie anzusehen. Geradezu ein Folterinstrument also.
Die Lüge hat die Peitsche bewusst nicht mitgenommen, als sie die Kleider der Wahrheit stahl. Die als Wahrheit verkleidete Lüge umgarnt die Menschen mit süßen Worten, möchte in ihrer Falschheit gesehen und bewundert werden. Und die Menschen? Vielleicht fällt dem einen oder anderen auf, dass die Wahrheit neuerdings ohne Peitsche kommt. Nun denn, umso besser! Wer vermisst schon eine Peitsche?
Bild: Jean-Léon Gérôme „Die Wahrheit kommt aus ihrem Brunnen“