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Feld

Wie zwei Antennen ragten die Ohren aus dem Kornfeld. Sie drehten sich nach links, rechts, bis sie sich zurück nach vorne richteten. Dorthin, wo wir standen: zwei Menschen, zwei potenzielle Jäger. Wir gingen ein paar Schritte weiter. Der junge Rehbock entschied sich, den Sicherheitsabstand zu vergrößern und hüpfte tiefer ins Feld. Eine feine Welle lief durch die gelb-grauen Ähren, sonst blieb alles ruhig. Hätte ich ihn nicht vorher im Kornfeld verschwinden sehen, hätte ich nicht gewusst, dass er dort war.

„Wer beobachtet uns wohl noch alles?“, fragte ich meinen Sohn. Er zuckte als Antwort mit den Achseln. Es war frühabends, an einem lauen Sommertag. Wir waren noch zu einem Spaziergang aufgebrochen, um durch die Wiesen und Felder in Nähe des Flusses zu laufen. Bis wir das Reh gesehen hatten, hatten wir uns unterhalten. Laut, wie man das so macht als Mensch. Davon ausgehend, dass wir die einzigen weit und breit wären. Jetzt waren wir uns plötzlich nicht mehr sicher. Während wir weiterschlenderten, schauten wir suchend hin und her. In wortloser Übereinkunft dämpften wir unsere Stimmen.

Wölfe oder Hasen?

„Da! Schau mal, noch ein Reh!“ Mein Sohn deutete ans andere Ende des Feldes. Tatsächlich guckte ein weiteres Ohrenpaar aus dem Feld. Das Reh hatte uns mit Sicherheit schon bemerkt, als wir vor rund zehn Minuten auf den sandigen und steinigen Feldweg eingebogen waren. Allerdings konnten wir es nun in seiner vollen Größe ausmachen, obwohl es sich selbst bestimmt für bestens versteckt hielt. Es stand mitten auf einem Trampelpfad, der in das Meer aus Ähren reichte und sich dort verzweigte. Offenbar war das Feld ein viel besuchter Ort. Wie viele Rehe sich wohl dort verbargen? Und was für Tiere noch? Hasen? Füchse? Oder sogar Wölfe? Es war bekannt, dass im nur wenige Kilometer entfernten Viehmoor mindestens ein Rudel lebte. Doch halt, würden die Rehe so gelassen sein, wenn Wölfe in der Nähe wären? Die Wölfe könnte ich also ausschließen, sagte ich mir. Wir ließen auch die Rehe hinter uns und kamen an den Wiesen vorbei. Neugierig reckten sechs Pferde ihre Hälse und richteten ihre Aufmerksamkeit auf uns. Zu unseren Füßen raschelte etwas: eine Maus. Und im Blühstreifen am Feldrand summten Libellen, Hummeln und Bienen. Wenige Meter vor uns stieben ein paar kleine Vögel davon und im Gras beim Flussufer spazierten zwei Störche.

Heupferde, die singen

„Was für ein riesiger Grashüpfer,“ sagte mein Sohn, der stehen geblieben war und fasziniert auf das Schilfgras guckte. Ich stellte mich neben ihn und staunte ebenfalls. Zwischen dem Gewusel aus kleinen Hüpfern saß ein großes, knallgrünes Exemplar. Mein Sohn schlich ins Gras, griff zu und hatte das Insekt auf seiner Hand. Jetzt hörten wir auch, dass es nicht das einzige Rieseninsekt war: Unter das gewohnte helle Zirpen mischte sich ein deutlich lauterer Gesang: Heupferde, wie ich zu Hause per Suchmaschine rausfand. Unser Heupferd flog in dem Augenblick elegant davon. Es landete an einem Schilfgrashalm, der zwischen hüfthohen Brennnesseln herausragte. Mein Sohn betrachtete seine bloßen Füße in den Sandalen und die Beine in kurzer Hose und entschied, das Heupferd noch ein wenig aus der Entfernung zu beobachten – während wir wiederum von unzähligen gut versteckten Augenpaaren beobachtet wurden. Als wir später nach Hause gingen, waren wir noch immer erfüllt von unseren kleinen und doch großen Erlebnissen.

Fotos: Nicole Hein

Nicole Hein ist freie Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Gesundheit, Steuern, Lebensart & Wohnen.

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