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Nachdenken über Sesshaftigkeit

Unterwegs. Eine kurze Rast auf einer Frühlingswiese lädt zum Nachdenken ein. Zum Beispiel über Sesshaftigkeit. Sesshaftigkeit entstand, als unsere Vorfahren vom nomadisierenden Jäger und Sammler zum Bauern wurden. Zwar gab es auch danach immer noch Ortsveränderungen, wenn etwa der Boden nichts mehr hergab. Dann zog man einige Kilometer weiter, machte neues Land urbar und lebte dort für ein paar Jahre. Doch blieb es bei Ortswechseln in einem engen Umkreis, man blieb der Landschaft weitgehend treu. Radikale Ortsveränderungen waren eher unfreiwillig und wurden durch gewaltsame Vertreibung, Naturkatastrophen, Hungersnöte ausgelöst.

Sesshaftigkeit und Verwurzelung

Mit der Sesshaftigkeit entwickelten sich Kultur und Kult. Diese waren an feste Gebäude gebunden – Tempel entstanden, befestigte Anlagen, Handelsorte, ausgebaute Wegenetze, Produktionsstätten. Jäger und Sammler kannten dies alles nicht, brauchten dies auch nicht, sie bewegten sich frei durchs Land, dem Großwild folgend. Während der Ackerbauer Wurzeln schlug, sahen die Jäger und Sammler den gesamten Umkreis ihrer Wanderungen und Züge als ihre Heimat an. Die Kultur der Ackerbauern setzte sich rasch durch – sie beschnitt den Lebensraum der Jäger und Sammler durch Einhegung und Grenzen. Das Land war nicht mehr frei, es wurde Eigentum und vererbbar und zur Grundlage von Macht.

Heute gibt es auf der gesamten Erde keinen Quadratzentimeter mehr, auf den nicht irgendjemand Besitzansprüche erhebt. Noch gelten zwar die Meere als frei, doch Ansprüche werden auch hier längst geltend gemacht. Jedes noch so tiefe Meer hat wiederum seinen Boden, der sich bewirtschaften lässt z. B. durch den Abbau von Bodenschätzen.

Doch während Grundbesitz früher die Sesshaftigkeit förderte, ist seit einiger Zeit ein Trend zur Auflösung der Sesshaftigkeit zu beobachten: Der Mensch zieht wieder von einem Ort zum anderen. Doch anders als zu Zeiten der Jäger und Sammler bewegt er sich dabei nicht mehr im Freien. Die nomadisierenden Menschenmassen unserer Tage sehen sich zunehmend mit Unfreiheit und Zwang konfrontiert. Und der Grundbesitz wird mehr und mehr in den Händen weniger Einzelpersonen, Konzerne und Institutionen konzentriert.

Die Folgen der Auflösung der Sesshaftigkeit

Wird die Sesshaftigkeit aufgegeben, verschwindet die Kultur. Jeder kann es sehen und erleben: Überlieferte Lebensformen verschwinden bzw. werden museal, an ihrer Stelle breitet sich ein einheitlicher globaler Stil aus. Mit der Kultur verschwindet das Bewusstsein für die eigene Identität, für die Bedeutung der Herkunft, die Muttersprache verliert rasch an Bedeutung, verfällt. Mit der Muttersprache verdämmert auch das Denken. Auch hier greift der globale Stil weit aus, nicht zuletzt in Gestalt künstlicher Intelligenz.

Je weiter der Prozess voranschreitet, desto weniger erkennen die Menschen die innere Armut und Kälte des neuen Stils. Sie leiden zwar darunter, entwickeln Angststörungen als Folge der Entfremdung von Herkunft und Vertrautheit, können es sich aber nicht erklären. Sie schieben ihre Ängste stattdessen auf ein diffuses „Rechts“, auf Pseudoursachen wie Trump, Putin und den Klimawandel. Tatsächlich leiden sie unter Identitätsverlust, unter dem Abhandenkommen ihres eigentümlichen Selbst. Das aber erklärt ihnen auch keiner der immer zahlreicher werdenden Psychotherapeuten.

Alte Nomaden, neue Nomaden

Die Jäger und Sammler waren frei. Die heutigen Arbeitsnomaden sind es nicht. Sie werden heute hierhin beordert, morgen dorthin. Irgendwo Wurzeln zu schlagen, heimisch zu werden – das passt nicht mehr in die neue Weltordnung. Menschenmassen werden inzwischen im großen Stil verschoben – oft unter dem Etikett humaner Projekte. Tatsächlich dürfte der Hintergrund ein anderer sein: Menschen werden entwurzelt, irgendwohin verfrachtet, wo sie als Kulturfremde dann ihrerseits zur Entwurzelung derjenigen beitragen, die dort seit langem sesshaft sind. Es geht nicht um die Rettung von Menschenleben, es geht um Kulturzerstörung.

Planmäßige Kulturzerstörung gibt es spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, heute werden letzten Reste abgeräumt. Allerdings ist nicht klar, wohin dieser Prozess führt. Es mag aber sein, dass die Rechnung nicht aufgeht und in nicht allzu ferner Zukunft wieder Jäger und Sammler in alter Freiheit durch das Land ziehen werden.

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.