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Der böse Blick in der Schule

Blicken wird einiges nachgesagt. Lange Zeit dachte man, sie könnten einem anderen Menschen Leid zufügen, Besitztümer schädigen oder sogar zum Tode führen. Besonders gruselig sind auch Basilisken. Darunter versteht man ein mythisches Tier mit Vogelbeinen, Flügeln, Federn und manchmal sogar einem Menschenkopf. Jeder, den der Blick eines Basilisken trifft, versteinert.

Die Lehrerin meines Gymnasiasten scheint etwas für alten Volksglauben und Mythologie übrig zu haben. Offenbar glaubt sie nämlich an die üblen Folgen eines bösen Blicks. Anders kann ich mir es nicht erklären, dass mein Sohn nun bestraft wird, weil er sie „böse angeguckt“ hat. Ehrlich gesagt, habe ich zunächst gezweifelt, ob sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen hat. Doch nach Rückfrage bestätigte mir die gute Frau, meinen Sohn an die Tafel geschrieben zu haben, weil er sie böse angeschaut hätte. Zu seinem Pech stand sein Name bereits wegen Gerangels um einen Stuhl (ein anderer Junge hat ihm seinen Stuhl geklaut, woraufhin er sich diesen zurückgeholt hat) an der Tafel. Beim zweiten Mal schaltet das so genannte Ampelsystem der Klassenlehrerinnen auf rot – und es wird ein Straftext fällig, der abgeschrieben werden muss.

Frei: Blicke kann man nicht verbieten

Mich lässt die Geschichte etwas ratlos zurück. Ich grübele immer noch, ob ich darüber lachen soll oder mich aufregen. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder für seine Blicke bestraft werden würde? Eine Fußgängerin läuft einem Fahrradfahrer vor das Bike. Er schaut böse – und schon hat er eine Anzeige am Hals. Oder im Betrieb genehmigt der Geschäftsführer die Gehaltserhöhung nicht. Die Arbeitnehmerin schaut ihn böse an, er bemerkt es – und kündigt ihr daraufhin fristlos. Seitdem ich mit der Lehrerin gesprochen habe, geht mir die Erzählung „Mein trauriges Gesicht“ von Heinrich Böll nicht mehr aus dem Kopf. Sie handelt von einem Mann, der wegen seines Gesichtsausdrucks verhaftet wird:

» „Und weshalb?“ fragte ich noch einmal.
„Es gibt das Gesetz, daß Sie glücklich zu sein haben.“
„Ich bin glücklich!“ rief ich.
„Ihr trauriges Gesicht ….“, er schüttelte den Kopf.
„Aber dieses Gesetz ist neu“, sagte ich.
„Es ist sechsunddreißig Stunden alt, und Sie wissen wohl, daß jedes Gesetz vierundzwanzig Stunden nach seiner Verkündung in Kraft tritt.“
„Aber ich kenne es nicht.“
„Kein Schutz vor Strafe. […]“ « *

Vielleicht sollte ich der guten Frau Bölls Erzählungen ans Herz legen. Wer sie mit Verstand liest, den bringen sie durchaus zum Nachdenken. Ich denke mir jedenfalls schon seit Tagen eine Menge – unter anderem über Gerechtigkeit, Selbstbewusstsein, Schule an sich und darüber, wann es besser ist im Leben, böse Blicke zu ignorieren und sich einfach abzuwenden.

 

*Böll, Heinrich: „Erzählungen 1937 – 1983″. Band 2. Kiepenheuer & Witsch. 1. Auflage 1997. S. 200

 

Foto: Nicole Hein

Nicole Hein ist freie Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Gesundheit, Steuern, Lebensart & Wohnen.

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