Dem Hahn wurden in alten Zeiten prophetische Kräfte zugeschrieben. Mit einem ironischen…
Nicht nur der Dichter selbst ist schöpferisch tätig. Auch das Lesen eines Gedichts kann unsere Kreativität aus dem Tiefschlaf reißen. Das geschieht auf geradezu unheimliche Weise.
Die meisten der von mir geschätzten Dichter sind zwar längst tot. Dennoch sprechen sie zu mir, ziehen mich in ein Zwiegespräch hinein, mehr noch: in eine Stimmung, in jenen flüchtigen Moment, in dem die Dichtung stattfand. Manchmal passiert auch schlicht nichts. Dann aber kann so ein Dichterwort in mir wieder wahre Gerölllawinen lostreten und den Geist in Turbulenzen versetzen, von denen dann auch ganz alltägliche Arbeiten profitieren: Ich finde überraschende Problemlösungen, arbeite schneller, beschwingter, bin mit mehr Lust bei der Sache. Sprache ist (wie Musik) eine Droge.
Was ein Gedicht auslösen kann
Die besondere Sprache eines Gedichts entfaltet eine Sogwirkung, die mich aus dem Hier und Jetzt fortzieht und mich in eine andere Welt hineinwirbelt. Sie wirkt über Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende – die Zeit wird bedeutungslos. Die Sprache entwickelt Kräfte wie der pfeifende Wind Christian Morgensterns:
Es pfeift der Wind. Was pfeift er wohl?
Eine tolle närrische Weise.
Er pfeift auf einem Schlüssel hohl,
bald gellend und bald leise.
Die Nacht weint ihm den Takt dazu
mit schweren Regentropfen,
die an der Fenster schwarze Ruh
am End eintönig klopfen.
Es pfeift der Wind. Es stöhnt und gellt.
Die Hunde heulen im Hofe. –
Er pfeift auf diese ganze Welt,
der große Philosophe.
Es ist keine Sprache, die den Verstand anspricht. Manch einer mag in ihr sogar das schlechthin Nutz- und Sinnlose sehen. Es ist aber eine Sprache von geradezu sinnlicher und übersinnlicher Kraft. Ich beginne den Tag deshalb oft mit einem Gedicht. Manchmal reichen einzelne Verse. Es sind Einstimmungen, Einschwingungen, eine Art Morgengymnastik des Geistes.
Ähnliches gehörte übrigens vor nicht allzu langer Zeit noch zur Alltagskultur, nämlich in Gestalt von Kalendersprüchen: Jeden Tag eine neue kleine, gereimte oder ungereimte Weisheit, die einen durch den Tag begleiten konnte, wenn man denn wollte. Oft kitschig, mitunter falsch zitiert, ganz selten echte Perlen. Dann aber tiefenanregend.
Es gibt übrigens auch die geisttötende Sprache. Deshalb beginne ich einen Tag niemals mit der Lektüre einer Zeitung, weder im Print- noch im Digitalformat. Es läuft auch kein Radio oder Fernsehgerät. Die Gegenwart bietet zwar viel Erregendes und Empörendes, aber kaum etwas den schöpferischen Geist Anregendes.
Foto: Lutz Meyer
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