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Sprache der Natur: Heraufziehendes Gewölk kündet ein Unwetter an

 

Nicht nur der Mensch spricht – es gibt auch eine Sprache der Natur. Diese Sprache teilt sich allerdings nicht jedem mit.

Was heißt überhaupt „Natur“?

Natur, das ist die Gesamtheit des Lebens um uns herum. Man hat sich angewöhnt, den Menschen der Natur entgegenzusetzen, als wäre er kein Teil von ihr: Hier ich, der Mensch, dort die Natur. Natur, das ist Landschaft, das sind Wolken, Wind und Wetter, Tiere, Pflanzen, Steine, Meere, Wüsten, Wälder. Alles, was nicht vom Menschen hergestellt wurde, ist Natur. Stellt der Mensch eine genetisch veränderte Pflanze her, wäre das also keine Natur. Das Machen des Menschen scheint die Natur insgesamt zu dominieren.

Folglich nennt man das gegenwärtige Erdzeitalter auch Anthropozän – das Erdzeitalter, das vom Menschen bestimmt wird. Was für eine Selbstüberschätzung des Menschen. Als würde nicht ein einziger mittelgroßer Asteroid oder die Wiederkehr einer ausgedehnten, ein paar Jahrtausende andauernden Eiszeit ausreichen, das Leben des Menschen auf der Erde zu gefährden oder gar zu vernichten. Gelänge dem Menschen rechtzeitig eine Ansiedelung auf dem Mars, würde er dort entweder sein Menschsein als Kind der Erde verlieren oder schneller vergehen als eine Eintagsfliege. Auch eine denkbare transhumanistische Synthese von Mensch und Maschine würde den Menschen nicht etwa zum ewigen Leben verhelfen, sondern lediglich zur Karikatur verunstalten und alsbald überflüssig machen.

Abgesehen davon wurde noch nie zuvor ein Erdzeitalter nach einer einzigen Lebensform benannt, und sei diese auch noch so präsent gewesen. Der Mensch ist ein Teil der Natur und bleibt ungeachtet aller Selbstermächtigungsphantasien von dieser abhängig. Genau deshalb ist er auch in der Lage, die Sprache der Natur zu verstehen. Allerdings setzt dies eine Bereitschaft voraus, hinzuschauen und hinzuhören.

Und was heißt „Sprache“?

Sprache können wir sehr weitgefasst als Mitteilung denken, die von anderen entziffert werden kann. Die Mitteilung kann durch gesprochene oder niedergeschriebene Worte oder Zeichen wie Runen oder Hieroglyphen erfolgen. Das ist jedoch nur ein Sonderfall von Sprache. Auch laut- und wortlose Gesten, Mimik, Pfeifen, Summen, Grunzen, Blicke, Farben und Formen sagen etwas aus. In natürlicher Umgebung begegnen uns zahllose solcher Mitteilungen, die ohne Worte auskommen.

Vielfältige Sprache der Natur

Dinge der Natur sprechen auf unterschiedlichste Weise und auf verschiedenen Ebenen zum Menschen. Sich auftürmendes Gewölk in Windrichtung mit Donnergrollen verkündet ein heraufziehendes Unwetter. Eine Pflanze, deren Blättern schlaff herabhängen, signalisiert Wassermangel. Nach Süden ziehende Vogelschwärme bedeuten das Herannahen des Winters. Das Vorkommen bestimmter Pflanzen ist immer ein Indiz für die Bodenbeschaffenheit. Durch Beobachtung, systematische Wissenserweiterung und Kombinationsgabe hat der Mensch im Laufe der Jahrtausende unzählige Sprechakte der Natur entschlüsselt.

Daneben gibt es aber auch eine Sprache der Natur, in der nicht einfach nur kausale Zusammenhänge sichtbar werden, sondern tiefe Verwandtschaften angedeutet werden. Ähnlichkeiten – etwa zwischen einer Walnuss und dem Gehirn – sind vielleicht nicht zufällig, sondern könnten Zusammenhänge ansprechen. Etwa dass der Verzehr von Walnüssen die Hirnleistung steigern kann. Was die uralte Signaturenlehre früh intuitiv erfasste, wird durch die neuzeitliche Wissenschaft nicht etwa erst entdeckt, sondern nur bestätigt. Doch auch Grenzen zwischen organischer Lebensform und anorganischer Materie können dabei bedeutungslos werden. Kristalline Ordnungen etwa finden sich in sozialen Systemen wieder. Dies zu erkennen, führt weit über Kausalitäten hinaus. Es deutet einen Zusammenhang an, der alles, was ist, umfasst. Auch den Menschen. Er wird zurückgerufen in die Natur und verliert so seine Sonderstellung. Zeit, sich vom Anthropozän zu verabschieden.

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.