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Krankheiten heilt der Arzt. Doch neben dem niedergelassenen Arzt gibt es den inneren Arzt – etwas im Menschen, das intuitiv weiß, worin das Problem besteht und wie es zu lösen ist. Man kennt das als Bauchgefühl, das einem rät, dieses zu tun und jenes zu lassen. Natürlich kann der innere Arzt nicht jedes Leiden heilen. Aber es lohnt sich doch, ihn zu konsultieren und auf ihn zu hören. Sprache ist sein wichtigstes Medium. Sprache kann sich auf unterschiedliche Weise heilend und stärkend auswirken.

Wie der niedergelassene Arzt ein Medizinstudium absolviert hat, kommt auch der innere Arzt nicht ohne mehr oder weniger mühsam angeeignetes Wissen aus. Ohne Wissen bleibt er sprachlos. Dies gilt umso mehr, als der innere Arzt mit dem identisch ist, was man als Geist bezeichnet. Neben der Lebenserfahrung und allen im Laufe der Jahre gewonnenen Einsichten und Erkenntnissen ist Lektüre wichtig. Sie kann ein Quell des Wissens sein, aus dem heraus der Geist seine Heilkräfte mobilisiert.

Dabei ist nicht jede Lektüre gleichermaßen geeignet. Auch taugt nicht jedes Buch zur Arznei für jeden Menschen. Dennoch kann man in einer gut sortierten Bibliothek das geistige Äquivalent zur Hausapotheke oder zum Kräutergarten erblicken. So mag das passende Buch die ideale Ergänzung sein zu Salbeitee und anderen pharmazeutisch nützlichen Handreichungen.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Die Rede von der heilenden Kraft von Lektüren bezieht sich nicht auf Ratgeberliteratur. Ratgeber zu Gesundheitsfragen können zwar im Alltag hilfreich sein. Doch ein Roman von Knut Hamsun, eine Kurzgeschichte von Joseph Conrad, Naturerkundungen von Ernst Jünger, eine Komödie oder ein Drama von Shakespeare, eine Abhandlung von Kant, ein Vers von Goethe, Benn oder Hölderlin wirken auf intensivere Art heilend, klärend, stärkend. Dies geschieht nicht vorrangig auf intellektueller Ebene, sondern oft unterschwellig, etwa indem Worte Bilder im Kopf entstehen lassen und zum Leuchten bringen. Hierzu ein paar Gedanken:

  • Lektüre mag helfen, die Zeit, in der man lebt, besser zu verstehen. Mitunter ist sie auch ein Auslöser, um die Welt in einer bislang nicht erfassten Tiefendimension wahrzunehmen (was steckt vielleicht hinter den Erscheinungen, welche prägenden Gesetze wirken hier usw.). Wir erkennen, dass wir nicht allein sind, dass unser Dasein nicht ohne Sinn ist. Das wiederum stärkt die Resilienz und mit ihr ganz konkret unser Immunsystem.
  • Lektüre erweitert das Wissen – und eröffnet Einblicke in Wissensbereiche, die in den Mainstreammedien nicht oder nur am Rande vorkommen. Lektüre führt zu Bildung nicht allein als Erweiterung des abrufbaren Wissens, sondern auch zur Bildung der Persönlichkeit. Beides immunisiert den Leser gegen Zumutungen des Zeitgeistes. Es sorgt so für geistige Klarheit und Sicherheit.
  • Lektüre kann helfen, den eigenen Sprachstil zu verfeinern, indem man sich an Vorbildern orientiert. Dies nicht im Sinne einer bloßen Übernahme, sondern als Folge einer Auseinandersetzung mit einem fremden Stil. Das ist heute besonders wichtig, weil gewachsene Sprache derzeit mutwillig zerstört wird – durch die Plattheiten der Unterhaltungsindustrie ebenso wie durch Gender und Sprachverbote. Wenn Sprache heilen soll, muss sie selbst heil sein.
  • Man findet sich selbst bzw. seine konkrete Lebenssituation in einem Text gespiegelt (oder man entdeckt doch die eine oder andere Parallele). Das kann zum Nachdenken anregen,  erhellend sein und zu einem besseren Selbstverständnis führen. Auch hier: Mehr Klarheit. Klarheit, die zu entschlossenem Handeln führt.
  • Lektüre entführt den Leser in andere Zeiten und andere geistige Räume, sie schafft Inseln der Ruhe und Stille inmitten der Alltagshektik. So sorgt sie für tiefe Entspannung. Lektüre von Autoren längst vergangener Epochen ermöglichen dem Geist sogar Zeitreisen. Nichts hilft einem müden, verdrießlichen Geist besser auf die Sprünge als das erfrischende Eintauchen in fremde Welten.
  • Gesprochene Sprache wirkt außerdem durch Sprachmelodie, Rhythmus und Ton. Unmittelbar zu erleben ist dies bei einem laut vorgelesenen Gedicht, noch stärker beim Singen eines Liedes.
  • Von manchen Autoren reichen homöopathische Dosen: ein Vers, eine Zeile, ein Wort. Insofern haben Kalendersprüche mit Zitaten schon einen tieferen Sinn. Andere können über längere Zeiträume täglich verabreicht werden. Und der eine oder andere gehört in den Giftschrank – von ihm ist nur in besonderen Lagen Gebrauch zu machen.

Natürlich soll man nicht nur mit, in oder aus Texten leben. Texte können aber dazu führen, dass man beginnt, auf eine andere, intensivere Weise zu leben. Das gilt natürlich nicht für jeden Text. Faustregel: Texte aus vergangenen Epochen sind meist besonders ergiebig. Autoren die ungefähr ab der Mitte des 20. Jahrhunderts oder später mit dem Schreiben begonnen haben, sind zwar oft unterhaltsam und lehrreich, aber sie stecken meist zu tief in dem drin, was uns heute gefährdet. Hier ist nur selten Gewinn zu erwarten.

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Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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