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Auf Denkwegen

Das Bild vom einsamen Denker in seiner Studierstube hält sich hartnäckig in den Köpfen. Natürlich verbringt der Denker, wenn er sein Gedachtes zu einem Text verdichtet, viel Zeit am Schreibtisch. Aber die dem Verdichten vorangegangene Denkleistung findet im Wesentlichen in der Bewegung statt – auf Denkwegen. Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Ernst Jünger – sie alle waren begeisterte Spaziergänger.

Gespräche auf Denkwegen

Hat man was miteinander zu bereden, so geht das an vielen Orten: Im Auto, im Bett, am Esstisch, in der Kneipe und beim Spazierengehen im Wald. Wir sehen hier den Unterschied zwischen stationärem und bewegtem Austausch. Ich ziehe den bewegten Austausch allen anderen Formen jederzeit vor. Und zwar deshalb, weil die körperliche Bewegung auch die Gedanken und die ihnen folgenden Sätze in Bewegung bringt. Sitze ich, sind meine Gedanken und mein Gesagtes von anderer Art. Mein Denken ist langsamer, ernster, vielleicht auch gründlicher als in der Bewegung. In der Bewegung aber sind meine Gedanken und meine Sätze spontaner, lebendiger, fröhlicher. Sie springen über Hindernisse hinweg, hüpfen über Stock und Stein, schlagen überraschend eine andere Richtung ein. Sie verlassen den breiten ausgelatschten Weg, stürmen ins Ungebahnte vor, finden Abkürzungen oder nie zuvor geschaute Ausblicke.

Selbstgespräche auf Denkwegen

Selbstgespräche zu führen gilt oft als Ausdruck von Einsamkeit: Da hat einer niemanden zum Reden, also redet er mit sich selbst. Eine solche Einschätzung liegt nahe, ist aber oft ein Irrtum. Selbstgespräche finden im Unterschied zum Zwiegespräch zwar nur mit mir selbst als Zuhörer statt. Mir dienen Selbstgespräche, die ich auf morgendlichen Waldgängen führe, zum Ausprobieren neuer Denkfiguren oder Formulierungen. Ich nutze sie für einen späteren Austausch mit anderen. Das scheint im Widerspruch zur im vorangegangenen Absatz behaupten Spontaneität des Zwiegeprächs zu stehen. Doch ist zu beachten, dass man einen im Vorhinein geschliffenen Gedanken nicht einfach nur weitergibt, sondern ihn im Weitergeben verändern kann.

Schweigen auf Denkwegen

Schweigen ist im Zeitalter inflationärer Kommunikation nicht gern gesehen: Da beteiligt sich einer nicht am Geschwätz, er hat sich zurückgezogen, verweigert den Austausch, bleibt Antworten schuldig. Schweigen gilt als bedrohlich. Schweigen birgt etwas Geheimnisvolles, hat etwas Brodelndes und Gärendes. Wer schweigt, hat etwas zu verbergen und bereitet womöglich etwas Großes vor, das eines Tages zu einem gewaltigen Ausbruch kommen könnte. Bei Nietzsche heißt es ungefähr: „Wer viel einst zu verkünden hat, schweigt viel in sich hinein. Wer einst den Blitz zu zünden hat, muss lange – Wolke sein.“

Geben wir also dem Schweigen seinen Raum – wiederum in der Bewegung, denn nicht nur im bewegten Zwie- oder Selbstgespräch, auch im bewegten Schweigen bereitet das Denken das später zu Verdichtende vor. Die Bewegung ist nicht nur nützlich, weil sie unser Gehirn mit Sauerstoff versorgt. Als Vorankommen im Raum ist sie der ständige Perspektivenwechsel, von dem jedes starke Denken lebt.

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.