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Je mehr wir über sie wissen, desto mehr erzählen uns die scheinbar stummen Steine. Versteinerungen wie einen Ammoniten können wir nicht nur einem Erdzeitalter, sondern auch einer konkreten Spezies zuordnen. Wir kennen den Lebensraum dieser längst ausgestorbenen Tiere und wissen ziemlich genau, welche anderen Arten damals das Meer bevölkerten. Wir wissen all dies jedoch noch nicht besonders lange.

Das Licht der (Selbst-)Erkenntnis

Noch vor wenigen Jahrhunderten galt es in der christlichen Welt als ausgemacht, dass das Erdalter nur wenige Tausend Jahre betrage (der irische Erzbischof James Ussher errechnet 1650 den Vorabend des 23. Oktober 4004 vor Christus als den Moment der Vollendung der Schöpfung). Erst nach und nach weitete sich der Horizont. Und wie der Mensch irgendwann anerkennen musste, dass er nur ein Winzling inmitten der unendlichen Weiten des Universums war, musste er sein Selbstbild auch in erdgeschichtlicher Hinsicht revidieren: Nicht von einem Schöpfergott als Krone der Schöpfung zum Leben erweckt, sondern (jedenfalls nach aktuellem Stand der Wissenschaft) vorläufiges Endprodukt einer langen Reihe anderer Mitglieder der Familie der Menschenaffen.

Ordnung ins Chaos bringen

Doch in einem Punkt unterschied der Mensch sich mutmaßlich von seinen behaarteren Anverwandten: Er erfand die Religion. Religion half, all das zunächst verwirrend erscheinende Ungeordnete zu ordnen. Sie befähigte Menschen, ihre Umwelt zu strukturieren, Zusammenhänge herzustellen, Unerklärliches zu erklären, das Dasein als sinnvoll zu erleben. Religion ordnet das Leben, begründet Riten und Kulte rund um die wichtigsten Ereignisse im Leben wie Geburt und Tod, Aussaat und Ernte. Religion dient auch dazu, Herrschaft zu begründen und Macht auszuüben. Und wo immer man Unerklärliches fand, bemühte man sich, es zu verstehen, indem man es in den religiösen Kontext einordnete. Später übernahmen dann die Naturwissenschaften die ordnungs- und sinnstiftende Funktion. Aber auch das muss nicht das letzte Wort sein.

Versteinerte Spuren göttlicher Anwesenheit

Unsere Vorfahren in grauer Vorzeit ließen Versteinerungen nicht unbeachtet liegen, obgleich ihnen die Vorstellung der zeitlichen Horizonte fehlte. Selbstverständlich fiel es ihnen auf, wenn ein Stein eine besondere Form aufwies wie etwa ein fossiler Ammonit oder ein versteinerter Seeigel. Es war klar, dass solche Steine sich vom umherliegenden Geröll unterschieden, dass sie etwas Besonderes waren, nichts Alltägliches also. Man nutzte sie als Talisman, verehrte sie als Spur göttlichen Wirkens. Sie wurden als Heilsteine eingesetzt, waren Grabbeigabe., Glück- und Segenbringer. Auch heute gehört schließlich eine Portion Glück dazu, ein prachtvolles, gut erhaltenes Fossil zu finden.

Eine Paradebeispiel für den Glauben an magische Kräfte von Fossilien sind Donnerkeile. Zu Pulver zerrieben, verabreichte man sie als Medikament etwa gegen Geschlechtskrankheiten, Augenleiden, Verstopfung, Zahnschmerzen. Ihre phallische Form legt nahe, dass man sie auch als Aphrodisiakum anwandte. Der Beiname „Teufelsfinger“ bezeugt, dass solche Versteinerungen im christlichen Mittelalter zwar als nicht ganz geheuer galten, aber dennoch oder gerade deswegen in der Volksheilkunde Verwendung fanden. Bereits in vorchristlicher Zeit wurden sie dem Donnergott Thor zugeordnet und dienten als Abwehrzauber gegen Blitzeinschlag.

Der Name Ammonit oder auch Ammonshorn wiederum verweist auf Amun-Re, einen der alten Götter Ägyptens. Amun-Re war Fruchtbarkeits-, Zeugungs-, Wind- und Lichtgott. In der Volksmedizin helfen Ammoniten gegen Schlangenbisse, fördern die Milchleistung der Kühe und dienen – eingelassen in das Mauerwerk – gleichfalls der Abwehr von Blitzen. Gegen Schlangenbisse wirken sie gemäß der Signaturenlehre: ihre Form erinnert an eine zusammengerollte Schlange (die Signaturenlehre basiert auf der Erkenntnis der Ähnlichkeit – Walnüsse galten deshalb schon lange vor neueren ernährungsphysiologischen Erkenntnissen als gut für das Gehirn).

Heute im Zeitalter der Verzifferung schätzt man Ammoniten nicht nur als Glücksbringer, sondern erkennt in ihnen zuweilen den Ausdruck einer Fibbonacci-Folge – die Natur folgt in den Augen der Heutigen also weniger göttlichen Gesetzen, als vielmehr mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Vielleicht ist der Unterschied ja gar nicht einmal so groß.

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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