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Künstliche Intelligenz

Künstliche Intelligenz erscheint vielen Menschen als Verlockung: KI nimmt uns lästige Arbeiten ab. Sie tut dies in vielen Fällen gratis, erledigt alles in atemberaubender Geschwindigkeit. Nicht immer fehlerfrei, aber oft doch in erstaunlicher Qualität. Gibt es gute Gründe, all diese Vorteile nicht zu nutzen, sich stattdessen weiterhin selbst abzuplagen?

Bequemlichkeiten und ihre Folgen

Nicht nur die Künstliche Intelligenz verspricht Arbeitserleichterung. Seit über 100 Jahren erleichtern diverse Automaten und Maschinen Hausarbeiten. Während ich dies schreibe, laufen selbstverständlich Geschirrspüler und Waschmaschine, Wisch- und Mähroboter hat dieser Haushalt zum Glück noch nicht. Maschinen verkürzen Wege, produzieren begehrte Güter, befördern Lasten und verteilen sie zuverlässig. Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion könnten die heute benötigten Lebensmittel gar nicht mehr ohne technisches Gerät produzieren.

Andere Maschinen transportieren uns rasch und bequem von einem Ort zum anderen, ohne dass wir einen Tropfen Schweiß vergießen müssten – im Kleinen machen das Rolltreppe und Fahrstuhl, im Großen Kraftfahrzeuge oder Flugzeuge.

Die Folgen sind bekannt: Viele Fähigkeiten, Fertigkeiten und die dafür nötigen Muskeln verkümmern. Das Problem der Muskelrückbildung lässt sich lösen, indem man ein Fitnessstudio besucht.

Doch was ist mit den immer weniger genutzten geistigen Fähigkeiten? Wir lassen rechnen, lassen uns vorlesen, lassen uns Videos zeigen, nutzen Apps, um uns die Inhalte komplexer Werke zusammenfassen zu lassen, sogar Kunstwerke lassen wir uns von Programmen produzieren. Der Preis dafür?

Use it or lose it –das  gilt auch hier. Nicht allein die Rechen-, Lese- und Schreibkompetenzen nehmen rapide ab – mit ihr auch die Fähigkeit zur eigenständigen Verarbeitung von Inhalten, zum tieferen Verständnis von Zusammenhängen und zur unabhängigen Urteilsbildung. Die Befürchtung, dass Menschen eines Tages nicht mehr gebraucht werden und von einer autonomen KI abgeschaltet werden können, ist wahrscheinlich übertrieben. Nicht übertrieben ist die Sorge, dass Künstliche Intelligenz oder Maschinenintelligenz den Menschen so sehr verändern wird, dass kein evolutionärer Schritt der letzten Jahrmillionen damit vergleichbar sein wird. Nein, das ist falsch ausgedrückt: Nicht die KI wird uns verändern. Wir selbst werden es mithilfe der KI tun.

Gewinne und Verluste

Die Veränderung betrifft nicht nur die unmittelbare Steuerung menschlicher Organe und Nervenzellen durch technische Signale. Liebe und Freundschaft, schöpferische Fähigkeiten, Gefühle, Intuition und Instinkte, die Fähigkeit zur Einsicht, ein Gespür für das Schöne und Gerechte, Ängste wird es nicht mehr geben. Gefühle und echte Schöpferkraft kann Künstliche Intelligenz nicht liefern – allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz. All das aber konstituiert seit seinen frühesten Anfängen das Menschsein.

Je mehr Aufgaben wir an die Künstliche Intelligenz delegieren, desto mehr werden wir verlieren. Gewinnen werden wir nur an der Oberfläche: Wir werden noch mehr Freizeit haben, uns noch weniger anstrengen müssen, vielleicht wird uns die KI auch auf bequeme Art noch mehr Geld verdienen lassen. Und wir werden uns im Gefühl unendlicher Überlegenheit sonnen dürfen – schließlich haben wir Menschen die KI erfunden, nutzen sie intelligent und nur zu unserem Vorteil. Künstliche Intelligenz liefert dieses wundervolle Paket weitgehend kostenlos.

Aber wir kennen doch die Gefahren

Nun gibt es besonnene Menschen, die sagen: „Ja, das stimmt – jedenfalls dann, wenn wir uns vollständig der KI überlassen. Aber das machen wir ja nicht. Wir nutzen sie nur punktuell, lassen sie hier Recherchearbeiten erledigen, nutzen sie dort als Ideengeber – was wir davon verwenden, entscheiden immer noch wir. Wir der autonome Mensch.“ Ich halte das für naiv. So, als würde man aufs Meer hinausrudern und sich sagen: „Solange ich das Ufer noch sehen kann, ist alles gut.“ An die nicht sichtbaren Strömungen, an jäh einsetzende Winde hat unserer Ruderer leider nicht gedacht.

Der wahre Preis

Alles hat seinen Preis. Und hier wird der Preis unvorstellbar hoch sein. Wir verlieren uns selbst nicht nur in dem Sinne, in dem Menschen, die früher in die Sklaverei verkauft wurden, ihre Freiheit verloren, ihnen aber ihr Seelenleben blieb. Wenn wir uns Schritt für Schritt an die KI verkaufen, werden wir auch unsere Seele verlieren. Und wir werden es noch nicht einmal bemerken.

Der Verlust der Seele ist der wahre Preis. Die erste Rate, die wir zahlen müssen, wenn wir uns, ohne dass wir uns dessen bewusst sein müssen, mehr und mehr an die KI ausliefern, ist die geistige Freiheit. Freiheit ist die Fähigkeit, sich aus eigener Motivation für oder gegen etwas zu entscheiden. Diese Freiheit wird schon jetzt von vielen als lästig empfunden.

Wie überaus praktisch, dass Künstliche Intelligenz Überwachung, Kontrolle und Steuerung der Motivation ermöglicht, je mehr man sich ihrer bedient. Man tut dies bekanntlich freiwillig und ist auch noch stolz darauf. Ein iPhone der neuesten Generation wird nicht als elektronische Fußfessel empfunden, die sie ist, sondern als Statussymbol.

KI und Unsterblichkeit

Doch das wird nicht verstanden. Stattdessen ist der Glaube verbreitet, dass die KI uns im Gegenteil unsterblich machen wird: Sie wird die Funktionen unserer Organe überwachen, abgenutztes Zellmaterial und unbrauchbar gewordene Organe erneuern, unsere Gedanken in Datensätze transformieren und diese für alle Zeiten aufbewahren. Ich würde das, was dann entsteht, aus tiefster Seele verabscheuen.

Jeder Mensch wird eine Entscheidung treffen müssen: Für das Menschsein, wie es immer war. Dazu gehört auch der Tod, dazu gehören Ungewissheit und Anstrengung, Glück und Unglück. All das, was ein Leben als Mensch eben so ausmacht. Oder für ein technisch so stark verändertes Menschsein, dass weder von Menschsein noch von Leben mehr die Rede sein kann. Diese Entscheidung ist nicht in ferner Zukunft zu treffen. Die Entscheidung fällt heute. Mit jedem Einzelnen.

 

Foto: Lutz Meyer

 

 

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Idiocracy

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.