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Ein Gedanke liegt in der Luft

Woher kommen unsere Ideen? Sind Ideen eine geistige Leistung in dem Sinne, wie wir ein Möbelstück herstellen, sind wir also deren Schöpfer? Immerhin beanspruchen wir für unsere Ideen, wenn sie einen wirtschaftlichen Nutzen versprechen, gern das Urheberrecht.

Doch sind wir wirklich Schöpfer? Wir sind Schöpfer in dem Sinne, in dem wir auch Wasser aus einer Quelle schöpfen. Wir haben das Wasser nicht erschaffen, schöpfen es aber. Und der Gedanke? Hier sagt man: Ein Gedanke liegt in der Luft. Man muss ihn nur ergreifen.

Aus der Luft gegriffen

Ein Gedanke liegt in der Luft, zum Greifen nah, man ergreift ihn – und andere sagen dann: Das ist doch völlig aus der Luft gegriffen. Womit sie meinen, dass der Gedanke, der in der Luft lag, jeder wissenschaftlichen oder empirischen Grundlage entbehrt, falsch ist, durch nichts bewiesen ist. Das betrifft vor allem Gedanken, die neu sind, ungewohnt und ungewöhnlich. Solche neuen Gedanken rufen Widerspruch auf den Plan.

Aber verfolgen wir einmal diese Aussage weiter: Ein Gedanke liegt in der Luft. Wie kommt er dorthin? Und wie gelangt er von dort in unser Gehirn? Und was geschieht weiter mit ihm?

Ein Gedanke liegt in der Luft – wie ist das zu verstehen?

Wenn ein Gedanke in der Luft liegt, meint man damit: Er liegt so nahe, dass er sich förmlich aufdrängt, dass er zur Sprache gebracht werden will. Man muss ihn sich nur schnappen, in Worte kleiden und für andere begreifbar machen. Aber wie ist der Gedanke in die Luft gekommen?

Der Gedanke schwebt irgendwie über uns. Ein Gedanke ist etwas Geistiges. Geistiges messen wir gewöhnlich in unseren Hirnströmen. Wenn das Geistige aber zuvor in der Luft lag, ist es nicht in unserem Gehirn entstanden.

Unser Gehirn hat den Gedanken, den Geist empfangen. Unser Gehirn ist also keine Gedankenfabrik, wohl aber etwas, das die Gedanken, die irgendwie in der Luft liegen, empfangen kann. Hat das Gehirn den Gedanken empfangen, kann es mit ihm arbeiten.

Wie aber nimmt der Gedanke Gestalt an? Arbeitet das Gehirn mit einem empfangenen Gedanken, kann der Gedanke sich materialisieren: Er wird zum Beispiel zu einem Werk der Kunst. Zu einem Bild, einem Lied, einer Dichtung, einer Philosophie. Oder zu etwas Technischem. Bei den alten Griechen bedeutet das Wort techne Kunst.

Das Schöpferische

Kreativ sein, schöpferisch sein, sich klingt nach einer großartigen Leistung des Ich. Aber vielleicht überschätzen wir das Ich als großen Macher völlig. „Wir sind schöpferisch tätig“ – das könnte etwas wesentlich anderes sein als ein übersteigerter Subjektivismus, als diese „Selbstermächtigung“, von der heute so gern und leichthin gesprochen wird. .

Das Bild des Schöpferischen kommt aus der Welt des Wassers, der Quellen und Brunnen: Wir schöpfen Wasser, mit den Händen oder einem Gefäß. Das Wasser trinken wir oder bewässern mit ihm unser Gemüse. Wir sind aber nicht die Hersteller des Wassers. In diesem Sinne sind wir als kreative Geister auch nicht die Hersteller unserer geistigen Schöpfung. Wir sind nur die Empfänger einer Idee, die eben gleichsam in der Luft liegt.

Gedanken und Vögel

Gedanken kommen von irgendwo her (vielleicht aus den Tiefen des Universums, vielleicht aus dem Meer oder sie wachsen wie aufkeimende Saat aus dem Boden heraus – es reicht zu wissen, dass sie einfach da sind), fliegen hin und her, lassen sich hier nieder oder dort – sie sind wie Vögel. Der Vogel erscheint mir als ein gutes Symbol für den freien Gedanken zu sein.

In diesem Zusammenhang fällt mir der Satz ein, den meine Mutter im August 2008 kurz vor ihrem Tod zu mir sagte – quasi ihr Vermächtnis an mich in schlichten Worten. Sie sagte „Lass den Vogel frei.“  Damit meinte sie wohl ganz konkret, dass ich den Kanarienvogel freilassen solle, weil sie womöglich glaubte, dass mein Vater als Hinterbliebener mit dessen Versorgung überfordert sein könnte. Dann ging mir aber der Hintersinn ihrer Worte auf: „Lass den Vogel frei“ war für mich die Aufforderung, den Gedanken-Vogel frei zu lassen, in die Luft zu entlassen – wo er dann hin- und herziehen konnte, wie er wollte, um mich dann irgendwann wieder anzufliegen, reifer geworden und vielleicht verändert. Das Gehirn sollte freilich kein Käfig sein, sondern ein Ort, an dem der Vogel sich frei für eine Weile niederlassen kann.

Zurück zur Frage, wie Gedanken Gestalt annehmen. Wir hatten das Kunstwerk erwähnt.

Gedanken, Pflanzen und Kristalle

Womöglich materialisieren sich Gedanken auch anders als im Werk der Kunst, vielleicht auch ohne menschliches Zutun.  Das bringt uns zu der etwas wunderlich erscheinenden Vermutung, dass vielleicht auch Pflanzen, Tiere und sogar Steine in irgendeiner Weise geistig tätig sind. Eine Kristallform, der Wuchs einer Pflanze, eines Schneckengehäuses – all das kann als materialisierter Gedanke gesehen werden.

Wilde Karde: Symbol eines starken DenkensSchaut man sich die Gestalt der Wilden Karde an, drängt sich der Gedanke an kleine Antennen förmlich auf: Die Deckblätter ragen in die Luft, als würden sie von dort etwas empfangen, was sich wiederum in der Pflanzengestalt niederschlägt. Diese Gedanken sind nicht neu. Wir finden sie unter anderem bei Goethe, bei Ernst Jünger, in Rupert Sheldrankes Theorie der morphischen Felder.

Das alles wird gern mit dem Etikett „Unwissenschaftlich“ versehen (also: „Völlig aus der Luft gegriffen“). Nun ist aber die Geschichte der Wissenschaften selbst eine Geschichte der Irrtümer, sodass wir auf ein solches Verdikt keinen allzu großen Wert legen müssen. Öffnen wir uns lieber dafür, die Welt des Geistes auf eine andere Weise zu sehen als gewohnt: Keine subjektive Leistung, keine Selbstermächtigung, sondern ein Brückenschlag vom Universum in unser Gehirn.

Fotos: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.