Zu meinem letzten Beitrag bekam ich was zu hören bzw. zu lesen…

Wildnis, das war früher die Gefährdung des Menschseins schlechthin. Dort lauerten die Gefahren, dort drohten Krankheiten, Verderben und Tod. Heute klingt Wildnis – wie alles, was knapp ist – verlockend. Die letzten Areale auf dem Planeten, die noch dem Namen Wildnis verdienen, stehen meist unter Schutz und scharfer Beobachtung. Wer sie besuchen will, muss sich an strenge Regeln halten – weniger, um sich selbst nicht zu gefährden, als vielmehr um die Wildnis nicht zu gefährden. Eigens ausgebildete Wildnispädagogen vermitteln Kenntnisse im Umgang mit diesen Restbeständen der Natur. Neben der Bedrohung der äußeren Wildnis verdient jedoch auch die innere Wildnis unsere Aufmerksamkeit. Sie ist ebenfalls stark gefährdet. Ihr Verschwinden würde nicht Tiere und Pflanzen bedrohen, sondern uns selbst.
Die innere Wildnis des Menschen
Wie die äußere Wildnis war auch die innere Wildnis des Menschen stets etwas, was es zu bekämpfen galt. Doch worin besteht diese innere Wildnis des Menschen überhaupt? Versuchen wir eine vorläufige Antwort: Die innere Wildnis des Menschen umfasst diejenigen Bereiche seines Seelenlebens und seines Handelns, die einer äußeren Reglementierung gar nicht oder nur unvollkommen unterliegen: Gedanken und Gefühle, Träume, Sexualität, Tod.
Zwar hat die Zivilisation immer versucht, auch diese Bereiche in den Griff zu bekommen – Träume, Gedanken und Gefühle werden analysiert und therapiert, die Sexualität wird reglementiert und ebenfalls therapiert, der Tod verdrängt und rationalisiert.
Doch immer blieb da ein großer Bereich, der sich solchen Zugriffen entzog. Er fand und findet seinen Ausdruck oft in Dichtung, Malerei, Musik, Tanz, in den Künsten überhaupt. Entsprechend wurde versucht, auch die Kunst Regeln zu unterwerfen – durch Verbote zum Beispiel. Was nicht gefällt, verschwindet aus der öffentlichen Wahrnehmung oder wird zuweilen auch physisch vernichtet. Noch perfider als jede dieser äußerlichen Grobheiten ist allerdings die staatliche Kunstförderung, die ausschließlich das Glatte, Gefällige und Angepasste fördert. Hier ist keinerlei Wildnis mehr. Staatliche Kunstförderung ist wie ein Pestizid, das jedes zarte Pflänzchen echter Kreativität vernichtet.
Die Gefährdung der inneren Wildnis heute
Man kann die Menschheit in zwei Gruppen teilen: Die Mehrheit steht dem technologischen Fortschritt und insbesondere den Möglichkeiten der digitalen Transformation von allem und jedem sehr aufgeschlossen gegenüber. Man ist begeistert von allem Neuen, nutzt es gern als einer der ersten, man sieht Vorteile wie etwa Zeit- und Kostenersparnis und einen Zugewinn an Bequemlichkeit. Viele denken auch gar weiter darüber nach – sie nehmen Neuerungen als gegeben hin. Eine Minderheit, sie dürfte derzeit etwa 20 % der Bevölkerung umfassen, sieht die Nachteile.
Diese Minderheit erkennt, dass technologischer Fortschritt zumal in der rasanten Digitalisierung die Freiheit des Menschen bedroht, sein Selbstbestimmungsrecht, seine Möglichkeiten zur kreativen Entfaltung gefährdet. Was das Kreative angeht, steht die Ausweitung der technischen Möglichkeiten, Bilder und Texte z. B. mithilfe von KI zu erzeugen, im schroffen Gegensatz zu echter, gelebter Kreativität. Diesen Unterschied wird freilich nur begreifen, wer aus sich selbst heraus etwas hervorzubringen imstande ist.
Die Gefährdung auch in anderen Lebensbereichen geschieht teils durch Zwang zur Nutzung etwa einer digitalen Identität, teils durch das Versprechen der Bequemlichkeit. Vom Menschsein im herkömmlichen Sinne bleibt da wenig übrig und ist auch immer weniger die Rede. Die Apologeten des Wandels sprechen bekanntlich vom neuen Menschen, dem Homo Deus, dem gottgleichen Menschen. Wie geht man mit dieser Gefährdung um? Gewaltakte, wie etwa Theodore John Kaczynski (1942 bis 2023) sie für richtig hielt, um die technologische Gesellschaft zu zerstören, bleiben insofern hilflos, weil man sich der Mittel jener Gesellschaft bedienen muss und ihr damit verhaftet bleibt. Doch geht es überhaupt anders? Ist es nicht unausweichlich, sich zumindest bis zu einem gewissen Grad der Methoden und Mittel des Feindes zu bedienen? Oder läuft man, wenn man gegen Ungeheuer kämpft, nicht Gefahr, selbst zu einem Ungeheuer zu werden?
Die Rückkehr in die innere Wildnis
Die innere Wildnis ist – wie die äußere – heute nur noch in Restbeständen vorhanden. Das Paradoxon entsteht, dass man die innere wie die äußere Wildnis rekultivieren muss. Doch Wildnis ist der Gegensatz zum kultivierten Raum. Ist Wildnis ein- für allemal verloren?
Nun sieht man aber vielerorts, dass ehemals kultivierte Räume, die man aus der Nutzung herausnimmt, nach und nach wieder zu etwas Naturhaftem werden. Das Naturhafte, das Natürliche aber ist der Nachbar der Wildnis. Was lange genug sich selbst überlassen bleibt, zunehmend wieder nach eigenen Regeln leben kann, wird dies auch tun. Das aber ist der Kern von Wildnis.
Überträgt man diesen Gedanken auf den Menschen, hieße das ganz einfach, zunächst den neu sich aufdrängenden Technologien immer weniger Raum und immer weniger Zeit im eigenen Leben zu gewähren. Man nutzt Technologien in dem Maße, in dem man sie selbst nutzen möchte. Man lässt sich nicht von ihnen vereinnahmen, enthält sich jeder Begeisterung für sie. Vor allem glaubt man den offiziellen Erzählungen (den „Narrativen“) keinen Moment, die einem von der Alternativlosigkeit einer Technologie oder eines Handelns überzeugen wollen. Alternativen gibt es immer. Sie mögen unbequem sein und sind vielleicht auch mit Risiken verbunden. Aber auf diese schlichte Art die jedem und jederzeit offensteht, lassen sich Freiheit und Autonomie bewahren: Verweigert euch Neuerungen und Zwängen, wo immer es geht. Weist alle Zumutungen, die eure Freiheit gefährden, zurück. Sprengt jeden Rahmen, den Technologien und Verordnungen euch aufnötigen wollen, durch einfaches Nichtmitmachen. Gebt dem Unkultiviertem mehr Raum in eurem Leben. Lebt einfach aus euch selbst heraus. Die Wildnis war nie weg. Sie ist da.
Foto: Lutz Meyer