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Social Media Brainrot

Brainrot oder Hirnfäule ist ein Phänomen, das derzeit oft im Zusammenhang mit der Nutzung von Social Media erwähnt wird. Gemeint ist, dass das stundenlange Konsumieren solcher Beiträge dem Gehirn Schaden zufügt. Doch ganz so neu ist dieses Phänomen nicht.

Medienkonsum

Es kommt nicht darauf an, ob die konsumierten Beiträge lehrreich und nützlich sind, einfach nur doof oder niederste Instinkte ansprechen. Entscheidend ist, dass das Gehirn einen Post nach dem anderen konsumiert. Ein vergleichbares Phänomen war in Vor-Internet- und Vor-Social-Media-Zeiten das Zappen – man schaltete von Programm zu Programm, verweilte jeweils ein paar Sekunden oder Minuten, nahm Bilder, Informationen und Töne flüchtig auf, um dann in die nächste bunte Welt hinüberzugleiten. Nach spätestens zwanzig Minuten begann man, sich irgendwie schlecht zu fühlen, schaltete die Kiste aus und legte die Fernbedienung weg.

Bloomsday: Eine literarische Vorstudie zum Brainrot

Der Schriftsteller Walter Kempowski würdigte dieses damals noch einigermaßen neuartige Verhalten in seinem Werk „Bloomsday ’97“. Kempowski verfügte damals, Ende der 90er Jahre, über gerade mal 37 TV-Kanäle, deren Inhalten er sich einen Tag lang aussetzte. Was er an Aberwitzigem und Infantilem durchlitt, dokumentierte er akribisch. So erlebte er das Terroristische der damaligen Medienwelt.

Heute stehen uns nicht wie zu Kempowskis Zeiten drei Dutzend Kanäle zur Verfügung, sondern Hunderte von Millionen. Auch wenn man sich nur einem Bruchteil davon in einem zeitlich beschränkten Selbstversuch aussetzt, merkt man schnell: Terror ist der richtige Begriff. Der regelmäßige und andauernde Konsum solcher Inhalte beschäftigt das Gehirn auf unproduktive Weise. Es konsumiert, reagiert vielleicht durch Likes oder kurze Kommentare oder das Weiterleiten, findet aber keinerlei Energie mehr, sich aktiv mit Wichtigerem wie zum Beispiel den Anforderungen des Alltags auseinanderzusetzen.

Jeder Post, dem wir uns aussetzen, ist wie eine einschlagende Granate. Unser Gehirn wird regelrecht zerbombt, zerschossen, durchsiebt. Es stirbt nicht sogleich daran, es wird nur faul: denkfaul, empfindungsfaul, handlungsfaul. Diese umfassende Faulheit ist der Auslöser besagter Hirnfäule – das Gehirn verrottet bei lebendigem Leib. Wohin das führt, zeigt uns Idiocracy, eine Science-Fiction-Komödie aus dem Jahr 2006. Wie der Titel schon vermuten lässt, geht es um eine dystopische Welt, die von Schwachköpfen beherrscht wird (die Handlung spielt im Jahr 2505, sie könnte aber bereits im Jahr 2025 spielen).

Ist digital für das Gehirn wirklich gefährlicher als analog?

Die Klage, dass wir unser Gehirn mit Nichtigkeiten beschäftigen und auf diese Weise lahmlegen, ist älter als Internet. Neil Postman beklagte bereits 1986 („Wir amüsieren uns zu Tode“) den Einfluss der Unterhaltungsindustrie auf unser Urteilsvermögen. Das war gut 10 Jahre vor Kempowskis Selbstversuch – und damit im Vergleich zu heutigen Zuständen geradezu ein Paradies der Stille. TV, Kino und Radio gab es, daneben viel Gedrucktes. Auch ein Großteil dieses Gedruckten wollte unterhalten. Doch wenn man ein Buch liest, ist das Gehirn ungleich aktiver, als wenn man einen Film anschaut. Das Gehirn erbringt beim Lesen eine gewaltige Leistung: es übersetzt Wörter in Bilder, verknüpft diese mit selbst Erlebtem und Gedachtem. Das Gehirn ist selbst der Regisseur und nicht bloß Publikum. Und es bestimmt selbst das Tempo, mit dem es Inhalte aufnimmt und verarbeitet. Das, was unser Hirn über Social Media aufnimmt, kann angesichts der ungeheuren Mengen gar nicht mehr verarbeitet werden. Brainrot ist dann die finale Diagnose. Wer seinem Gehirn dieses Siechtum ersparen möchte, reduziere seinen Konsum digitaler Medien umgehend auf maximal eine halbe Stunde täglich und nutze die Angebote streng selektiv. Man kann z. B. bestimmten Kanälen, die verlässliche Nachrichten oder Analysen bieten, folgen. Und dann ersetze man die frei gewordene Zeit durch Bewegung, durch Lektüre, Musik, die Künste überhaupt.

Schaut anderen nicht beim Leben zu. Lebt selbst!

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.