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Fotokisten

Im Zeitalter der digitalen Fotografie sterben sie langsam aus, die Fotokisten. Fotokisten sind für Leute wie mich, die sich nicht durch besonderen archivarischen Ehrgeiz auszeichnen, eine Alternative zum sorgfältig gepflegten und möglichst auch beschrifteten Fotoalbum. Ich besitze mehrere solcher Fotokisten. Jahrzehnte später offenbaren sie einen ganz speziellen Nutzen, der weit über die reine Erinnerung hinausreicht.

 Rohmaterial für Geschichten

Ob man nun als Autor tätig ist oder nicht. Der Kreativität auf die Sprünge zu helfen, schadet nie. Und da kommen nun die Fotokisten ins Spiel. Man greife hinein, möglichst ohne hinzusehen, und ziehe ein halbes Dutzend, maximal 10 Bilder heraus. Erst jetzt kommen die Augen ins Spiel: Man betrachtet die Bilder, achtet auf die Gedanken, die sich einstellen, bringt die Bilder in eine Reihenfolge – und beginnt, anhand der ausgelegten Bilder eine Geschichte zu erfindenn. Fluten beim ersten Betrachten möglicherweise noch konkrete Erinnerungen an, durchbricht man diese historische Substanz der Bilder nun mit Absicht. So erfindet man eine Geschichte, die mit der eigenen wahrscheinlich nicht mehr viel zu tun hat.

Fremde Fotokisten

Natürlich habe ich auch mehrere Fotoalben aus  dem Besitz meiner Eltern geerbt. Ich habe die Alben geplündert, alle Bilder in eine Kiste geworfen, die leeren Alben entsorgt. Das Besondere: Viele Bilder sind vor meiner Zeit entstanden, ich weiß teilweise gar nicht, wer oder was auf den Bildern zu sehen ist. Das macht es noch einmal reizvoller und leichter, ins Fabulieren zu geraten. Wer nach Entrümpelungsaktionen keine solchen Fotokisten mehr besitzt, sei auf Flohmärkte oder Ebay verwiesen. Oft werden private Fotokonvolute zu einem Spottpreis verscherbelt. Das kann sogar von Vorteil sein, weil man hier keinerlei persönliche Beziehungen zum Bildmaterial hat und nichts ausblenden muss. Es gibt zur Anregung der Phantasie kaum Besseres. Und Preiswerteres erst recht nicht.

Für Fortgeschrittene: Mixe eine Handvoll Bilder mit ein paar willkürlich ausgewählten Gegenständen (möglichst auch mit Patina), alten handgeschriebenen Briefe oder Notizen und ergänze das Ganze um Geruchskomponenten. Gerüche sind wahnsinnig stark, wenn es darum geht, den eigenen Geist auf die erstaunlichsten Abwege zu bringen. Das können alte Duftwässer oder Seifen (nie ausgepackt, nie benutzt), Gewürze oder Dinge sein, die nach irgendwas riechen. Der Kreativität tut’s gut.

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.