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Götter, Helden und Gedächtnis - und Odins Raben

Götter und Helden sind unter uns. Sie haben weder musealen Charakter noch leben sie in den Zerrbildern der Computerspiel- und Filmindustrie. Götter und Helden sind auch nicht irgendwo draußen im Universum, losgelöst von uns. Sie sind in uns. Die Götter und Helden der Mythen sind Gestalten unserer Seele. Gut zeigen lässt sich das auch Nebengestalten wie Odins Rabenpaar. Wir werden sehen, wie Götter, Helden und Gedächtnis so etwas wie Kunst überhaupt erst ermöglichen.

Odins Raben

Hugin und Munin, Gedanke und Gedächtnis, sind die Raben Odins. Sie fliegen jeden Morgen in die Welt hinaus und bringen dem Göttervater Kunde von dem, was da draußen in Midgard und und in Asgard vor sich geht. Das Rabenpaar ist aber mehr als Odins Morgenzeitung. Hugin und Munin sind Gedanke und Gedächtnis – und zwar Gedanke und Gedächtnis des Menschen.

Gedanke und Gedächtnis sind auf das Engste miteinander verbunden. Wo kein Gedanke, da kein Gedächtnis und umgekehrt. Gedächtnis ist Erinnerung – oder deutlicher: Er-Innerung, Die Er-Innerung holt etwas aus der Tiefe des früher einmal Erlebten hervor, das im Innern fortbesteht. Das Er-Innerte speist den Gedanken. Der Gedanke macht neu Erlebtes greif- und er-innerbar. Etwas Erlebtes, das wir nicht in Gedanken fassen können, verschwindet schnell im nebulösen Nichts. Der Gedanke wird in Wörter gefasst, Wörter machen Vergangenes zu Er-Innertem und abrufbar. Nicht nur Wörter können Er-Innerungen fassen, auch Bilder.

Gedächtnis und Musen

Mnemosyne ist eine griechische Göttin, ihr Name bedeutet Gedächtnis oder Erinnerung. Wenn Martin Heidegger den Namen Mnemosyne n seiner Interpretation der Hölderlinschen Dichtung nicht mit „das Gedächtnis“ sondern mit „die Gedächtnis“ übersetzt, reißt er sie aus dem Bezirk des Trivialen heraus, in dem Gedächtnis mit Gingko-Extrakt, Gehirnjogging und Mnemotechnik assoziiert wird. Gedächtnis ist etwas Heiliges, etwas Göttliches. Zugleich wird mit dem Femininum der ursprünglich weibliche Charakter unterstrichen. Im griechischen Mythos ist Mnemosyne die Mutter der neun Musen. Die Musen stehen für die wichtigsten Künste der griechischen Antike.

Kunst ist Er-Innern

Kunst – wo sie sich von Kommerz, Kitsch und Kommunikation unterscheidet und Ausdruck der Seele ist – kann es ohne Er-Innertes nicht geben, Kunst ist immer ein Rückgriff auf Erlebtes, auf Gedachtes, das in Wort und Bild gefasst, im Gedächtnis schlummert. Dort wird es durch den Künstler geweckt, wieder in die Gegenwart gehoben. Das geht nicht ohne die Anwesenheit der Musen, der Töchter der Mnemosyne. Insofern Kunst ist göttlichen Charakters – wobei das Göttliches nichts Jenseitiges ist, sondern seelische Gestalt.

Foto: Lutz Meyer

 

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.