Seit langen Jahren hängt dieses kleine Blatt eines mir unbekannten Künstlers (ich…
Zu einem Beitrag von gestern erreichten mich Nachfragen, hauptsächlich die Umgebung betreffend, in der das dort vorgestellte Blatt hängt. Eine Leserin mutmaßte, dass es vermutlich solo an einer ansonsten leeren Wand hänge und gut ausgeleuchtet sei. Letzteres trifft nur im Winter und bei tiefstehender Sonne zu, Kunstlicht erreicht diese Wand gar nicht erst. Und auch eine leere Wand gibt es nicht, im Gegenteil: Sie ist ziemlich voll. Ich möchte das Geheimnis lüften und gleichzeitig die Sache mit dem Hineingezogen-Werden etwas ausführen.
Magie der Kunst: Es werden Geschichten erzählt
Das kleine, monochrome magische Blatt hat einen fast schon farbenfroh zu nennenden Nachbarn, und zwar in unmittelbarer Nähe: Ein Gemälde eines norwegischen Malers namens Ibsen (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Dramatiker) – einen Hafen mit ein paar Booten darstellend.
Dieses Bild verbindet mich auf mysteriöse Weise mit meiner Kindheit und Jugend, die ich in einer kleinen ostholsteinischen Hafenstadt verbrachte. Nicht, weil es dort genau so aussah, das ist nicht mal ansatzweise der Fall. Jedoch steigen mir beim Betrachten des Bildes die Gerüche in die Nase, die ich als Kind an einem heißen Julitag im Hafen wahrnahm: der Geruch fischimprägnierter Holzkisten, Getreide und frisch gesägte Bretter von der gegenüberliegenden Hafenseite, Schiffsdiesel, Farbe und das unverwechselbare Aroma der sommerlich warmen Ostsee. Die Magie eines Bildes wird also nicht allein visuell vermittelt, auch die anderen Sinnesorgane – hier die Nase – haben ihren Anteil. Eine weitere Sinneswahrnehmung ist im dritten Bild an dieser Wand tragend. Dieses Bild zeigt eine Flusslandschaft.
Dem Rauschen des Windes in gemalten Bäumen lauschend
Ich höre ein leises Rauschen in der Baumkrone, ausgelöst durch eine sommerliche Brise. Es ist nur ein zarter Hauch, aber er trägt mir eine Geschichte zu, die von einer fernen Vergangenheit (viel ferner als meine Kindheit) erzählt. Es waren solche lichten Auenlandschaften, in denen unsere alt- und mittelsteinzeitlichen Urahnen bevorzugt siedelten. Sie kannten noch keinen Ackerbau, sondern lebten als Jäger, Sammler und Fischer. Ein Gewässer in unmittelbarer Nähe stellte die Versorgung mit Trinkwasser sicher und bot zugleich die Aussicht auf Fisch und andere Jagdbeute. Der lichte Raum in Verbindung mit Büschen und Bäumen bot einerseits Deckung, andererseits Ausblick auf alles, was sich näherte. Ich sitze an diesem Januartag des Jahres 2025 am Tisch, trinke meinen dritten Espresso und versinke im Bild – auch hier wieder ein Ausstieg aus der Gegenwart, Einladung zu einer Zeitreise.
Foto: Lutz Meyer