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Überall, wo Steine in großer Zahl herumliegen, sind sie unvermeidlich: Steinmännchen, im Fachjargon Balancing stones genannt. Also vor allem an Stränden, aber auch in manchen Bergregionen. Wer baut diese Dinger eigentlich und warum? Bis ich anfing, genauer darauf zu achten, nahm ich stillschweigend an, es wäre Kinderwerk. Doch weit gefehlt.

Menschen schichten Steine übereinander. Warum?

Meist sind es Leute, Frauen meist, im mittleren Lebensalter. Was treibt diese Menschen dazu, Steine aufzuschichten? Ein Wettbewerb, wer den höchsten baut? Ein schnelles Fotomotiv für Instagram oder Pinterest? Eine tiefe Sehnsucht nach Balance oder Spiritualität? Reiner Spieltrieb? Ausdruck des Wunsches, eine Spur des eigenen flüchtigen Daseins zu hinterlassen? Fühlt man sich gar für einen Augenblick als Künstler? Früher waren solche Steintürme Wegmarken in der leeren Landschaft, an denen Reisende und Wanderer sich orientieren konnten. Aber das dürfte in dicht besiedelten Gegenden – zumal im Zeitalter digitaler Kartenwerke, die nahezu jeder jederzeit auf seinem Smartphone mit sich führt – als Grund wohl ausscheiden.

Doch nach dem Grund zu fragen, ist vielleicht auch müßig. Ich freue mich einfach immer nur, wenn ich ein paar von diesen flüchtigen Monumenten am Strand antreffe. Und dies nicht etwa, weil ich als Philosoph so gern über Sinn und Unsinn menschlichen Tuns nachsinne.

Werden und Vergehen

Nein. Ich werde aktiv und nehme selbst Steine in die Hand. Ich veranstalte Zielübungen – aus 5 Metern Entfernung zu treffen, ist kinderleicht. Ein Steinmännchen mit nur einem Wurf aus 10 oder 15 Metern zu fällen, ist schon schwieriger. Aber mit etwas Übung gelingt es. Welch herrlicher Klang, wenn ein besonders großes Steinmännchen polternd zusammenstürzt! Man sollte übrigens möglichst tief zielen, um ein Steinmännchen wie einen Baum direkt an der Basis zu fällen. Die wahre Meisterschaft offenbart sich in der Kunst des Schrotwurfes: Man nimmt drei oder vier hühnereigroße Kiesel in die Hand und feuert sie mit einem einzigen kraftvollen Wurf auf zwei oder drei nebeneinanderstehende Ziele ab. Man räumt so, weil die Wurfkiesel vergleichsweise klein sind, damit meist nur die Spitzen ab, kann den Rest dann aber gezielt erledigen. So hat man doppelte Freude. Das ist keine blinde Zerstörungswut, ich habe tatsächlich eine tiefe innere Freude daran – so wie andere Freude daran hatten, die Steinmännchen zu errichten.

Klarstellung

Sollten leidenschaftliche Steinmännchenerbauende ob dieser Zeilen schockiert sein: Erstens wären diese Gebilde auch ohne mein Zutun nur von begrenzter Lebensdauer. Der nächste Sturm würde sie umhauen. Zweitens könnte man auch einmal darüber nachdenken, ob diese Dinger für andere Menschen nicht eine ästhetische Zumutung darstellen könnten und man – aufs Ganze gesehen – mit ihrer Beseitigung womöglich ein gutes Werk verrichtet. Und drittens: Könnte nicht gerade in der Flüchtigkeit dieser Gebilde ihr tieferer Sinn liegen?

Während ich dies schreibe, macht man mich auf eine Steinmännchenzerstörung aufmerksam, die sich im November 2022 in Kleve ereignet hat. Hier wurden die Gebilde über Jahre hinweg von einem buddhistisch inspirierten Künstler errichtet.  Die Empörung über die Zerstörung war jedenfalls groß, die Hilfsbereitschaft beim Wiederaufbau allerdings auch. Doch hätte man es nicht beim Zerstörungswerk belassen sollen? Gerade aus buddhistischer Sicht könnte das Zerstörungswerk sinnvoll gewesen sein. Buddha selbst lehrte bekanntlich, dass jegliche Erscheinung unbeständig sei.

Foto: Lutz Meyer

 

 

 

 

 

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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