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Geistiges Wachstum

Organische Materie muss nur lange genug irgendwo liegen bleiben – und sie wird sich zersetzen. Was wir als Fäulnisprozess, als Zerfall, als Dekomposition sehen, ist die Rückführung von etwas Gewachsenem in seine Bestandteile. Die wiederum lösen sich in immer kleinere Bestandteile auf, reichern den Boden an – und schaffen so die Grundlage für neues Pflanzenleben. Geistiges Wachstum funktioniert ganz ähnlich.

Geistiges Wachstum ist kein geradliniger Prozess

Denkt man an geistiges Wachstum, stellt manch einer es sich vielleicht wie den Bau eines Hauses vor: Stein auf Stein, Zimmer für Zimmer, Stockwerk auf Stockwerk. Schließlich ein Dach, Fenster, Türen und Versorgungsleitungen – alles nach Plan und alles exakt ausgerichtet. Zwar gibt es Lernprozesse, die ganz ähnlich funktionieren – etwa, wenn wir Formeln, Vokabeln oder ein Gedicht auswendig lernen.

Doch selbst bei Lernen nach Plan tritt noch etwas Anderes hinzu. Das Gelernte wird sich nur dann in uns verwurzeln und später abrufbereit sein, wenn es auf einen fruchtbaren Boden fällt. Dieser fruchtbare Boden muss wie der Gartenboden bereitet werden. Fehlt es dem an Mineralstoffen oder Wasser, ist der Grund zu sehr verdichtet, wird keine gute Ernte zu erwarten sein. Der fruchtbare Boden in uns braucht andere Dinge: erworbenes Wissen und angeeignete Fertigkeiten, aber vor allem auch Lebenserfahrung, Lebensklugheit. Erworbenes Wissen darf in diesem Boden ruhig wieder ein wenig zerbröseln und sich auflösen – nicht alles Gelernte muss auf Ewigkeit erhalten bleiben.

Geistige Reife

Geistes Wachstum setzt geistige Reife voraus – eine Reife, wie sie durch das Leben selbst entsteht. Verweigern wir uns dem wahren, dem ungeplanten Leben und führen ein Dasein, das wie auf dem Reißbrett entworfen erscheint, wird es uns an geistiger Reife fehlen. Wir mögen Wissen ohne Ende in uns angehäuft haben – ohne geistige Reife wird dieses Wissen nur wie Ballast erscheinen, den wir papageienhaft reproduzieren können. Aber es ist kein lebendiges Wissen. Nut ein solches ermöglicht geistiges Wachstum.

Vertrauen wir uns also dem Leben an – lassen wir es geschehen, planen wir nicht allzu viel, öffnen wir uns den Zu- und Wechselfällen, begegnen wir dem Leben mit Güte, Geduld und Gelassenheit. Und betrachten wir uns selbst dabei immer aus einer gewissen Distanz. Nehmen wir uns selbst also nicht allzu wichtig. Eines Tages werden ja auch wir uns unwiderruflich auflösen.

 

Foto: Lutz Meyer

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.