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Besteckkasten

Im Laufe des Lebens sammeln sich Dinge, die einem lieb und teuer sind – und die nur im Schrank liegen. Obwohl ich im vergangenen Jahr ordentlich ausgemistet habe, finden sich noch einige: mein Märchenbuch aus der Kindheit, der Stoffbär aus Kanada oder der Handabdruck aus Gips meines damals dreijährigen Sohnes. Einer dieser Zu-schade-zum-Weggeben-oder-Benutzen-Gegenstände begleitet mich seit meiner Konfirmation. Er reiste mit in mein Studentenwohnheimzimmer, in mein erstes WG-Zimmer, weiter in meine erste eigene Wohnung – und legte dabei etliche Kilometer quer durch Deutschland zurück.

Mangels eines besseren Platzes liegt der hübsche Holzkasten mit dem mehrteiligen Besteck derzeit auf dem Gefrierschrank – unter der Kiste mit Bastelutensilien. Geschenkt hat ihn meine Großmutter, denn mit 14 Jahren wird es für ein Mädchen allmählich Zeit, für die Aussteuer zu sammeln. Also gab es neben Handtüchern und Bettwäsche diesen Kasten mit Gabeln, Löffeln, Messern und dem obligatorischen Anlegebesteck. Übrigens hörte ich damals das erste Mal das Wort: Anlegebesteck. Besteck, das man neben die Wurstplatte anlegt, oder mit dem man sich eine Scheibe Braten auf den Teller hebt.

Wohin sind die Teelöffel verschwunden?

Als Studentin hatte ich noch nicht einmal den Platz oder passenden Tisch, um mir die Menge an Leuten einzuladen, die mein Besteckkasten hergibt. Auch hatte ich mich bei meinem Auszug mit schlichtem Besteck eingedeckt: Ein Löffel mit edlem Goldbezug schien mir etwas fehl am Platz in meiner WG-Küche mit dem Stühlen vom Sperrmüll und dem urigen Standherd, den ein mir nicht bekannter Vorbewohner beigesteuert haben muss.

Später als ich Kinder hatte und meine Familie größer wurde, wähnte ich endlich zahlreiche Einsatzmöglichkeiten. Doch bei der ersten richtig großen Feier mit vielen Leuten fand ich das edle Besteck abermals nicht passend: Wer weiß, wen die 6-jährigen Geburtstagsgäste mit der goldenen Gabel noch aufspießen würden – nachdem sie damit den Drei-Farben-Topfkuchen mit Zuckerglasur verputzt hatten. Also kam wieder einmal das schlicht-praktische Besteck vom schwedischen Möbelhaus auf die knallrote Wachstischdecke.

Momentan herrscht in meiner Küche ein mir unerklärlicher Schwund an Teelöffeln. Regelmäßig muss ich welche aus dem Besteckkasten des Geschirrspülers fischen und spülen, damit ich meinen Pudding löffeln oder mein Sohn den Kakao umrühren kann. Ganz praktisch meinte er: „Nimm doch ein paar Teelöffel aus dem Besteckkasten. Die liegen doch sowieso nur rum.“ Recht hat er. Aber so ganz kann ich mich nicht damit anfreunden, einzelne Besteckteile aus ihrem Bett zu holen und in die Schublade zu legen. Natürlich könnte ich sämtliche Gabeln und Messer herausnehmen. Aber was mache ich mit dem Anlegebesteck? Irgendwie hängt mein Herz daran, den Kasten gut gefüllt wie er seit Jahrzehnten ist, zu lassen. Wobei es doch eigentlich das schönere Andenken an meine Großmutter wäre, wenn ich das Besteck täglich nutzen würde. Vielleicht sollte ich meine Familie entscheiden lassen – die sehen den Besteckkasten leidenschaftslos und haben ihre eigenen Zu-schade-zum-Weggeben-oder-Benutzen-Gegenstände.

Foto: Nicole Hein

Nicole Hein ist freie Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Gesundheit, Steuern, Lebensart & Wohnen.

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