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Auf Steynerley üben wir uns normalerweise bewusst in Zurückhaltung, was aktuelle und insbesondere politische Themen angeht. Darum kümmern sich andere schon genug. Steynerley ist eine Insel der Ruhe. Heute aber mache ich mal eine Ausnahme. Denn ich habe keine Lust, unsere Freiheit und Selbstbestimmung zugunsten einer heraufdämmernden zivilgesellschaftlichen Religion aufzugeben.

Ein Bundespräsident, der das Wählen einer falschen Partei unter Strafe stellen möchte – diese Wähler könnten, so Steinmeier, nicht auf mildernde Umstände rechnen (mildernde Umstände sind ein Begriff aus dem Strafrecht). Ein Bundeskanzler, der Friedensdemonstranten als gefallene Engel aus der Hölle bezeichnet. Ein öffentlich-rechtlicher Wetterfrosch, der Menschen, die das offizielle Klimawandel-Narrativ hinterfragen, zu Staatsfeinden erklärt. Diese drei Beispiele aus jüngster Zeit zeigen, wohin die Reise geht: Eine neue Religion dämmert herauf – hier zählen nur noch der Glaube und die blinde Gefolgschaft. Jeder Zweifel ist strafbar.

Eine Religion, die sich als Wissenschaft tarnt

Schon zu Corona-Zeiten war auffällig, dass es nicht mehr um einen rationalen Diskurs geht. Frühzeitig wurden renommierte Wissenschaftler, die einen anderen Standpunkt vertraten als der Chefvirologe Drosten, das Robert Koch-Institut und das Bundesgesundheitsministerium, von Regierungsseite und staatsnahen Medien kaltgestellt. Da konnten sogar methodische Fehler, Logikbrüche und gewollte oder fahrlässige Missinterpretation von Zahlen nachgewiesen werden – egal. Man ließ die kritischen Wissenschaftler einfach nicht zu Wort kommen, verleumdete sie, kriminalisierte sie. Und alle, die diesen mutigen Wissenschaftlern folgten, ebenso.

Das alles geschah bekanntlich unter dem Motto: Trust the sciene bzw. follow the science. Nun ist es aber so, dass es DIE Wissenschaft nicht gibt. Es gibt Wissenschaften und innerhalb jeder Wissenschaft unterschiedliche Standpunkte. Das, was allen Wissenschaften gemein ist, ist die Wissenschaftlichkeit.  Wissenschaftlichkeit besteht im offenen Diskurs, lebt vom Widerspruch – der Widerstreit ist geradezu der Motor der Wissenschaftlichkeit. In dem Moment, in dem bestimmte Wissenschaftler Widerspruch nicht mehr akzeptieren möchten, weiß man: Hier reden keine Wissenschaftler, hier reden Pfaffen. Und diese Pfaffen dulden im öffentlichen Raum niemanden, der ihre Äußerungen in Zweifel zieht. Schon gar nicht, wenn dies mit guten Argumenten geschieht. Staatliche Universitäten canceln heute angesehene Wissenschaftler, nur weil sie es wagen, offen zu reden. Das erinnert an sehr düstere Zeiten, in denen man Hexen nicht nur symbolisch zu verbrennen pflegte.

Man redet sich gern auf Notstand (Corona, Klima, Migration – beliebig fortzusetzen) hinaus, verweist auf höhere Ziele. Das mag man so machen – aber wissenschaftlich ist das nicht, sondern bestenfalls eine hehre Absicht oder Moral. Oder eben das, was man heute so gern als “Haltung zeigen” bezeichnet. Man zeigt also einfach Haltung – und fühlt sich jeder Nachweispflicht wissenschaftlicher Solidität enthoben.  Das ist Religion. Sonst nichts. Der Tanz ums Goldene Kalb beginnt aufs Neue.

Der Weg zum Glaubensstaat

Es wird gern behauptet, dass sich unsere Demokratie derzeit geradenwegs in eine Diktatur verwandele. Das ist so nicht richtig – unsere Demokratie befindet sich aber sehr wohl auf dem Weg in einen autoritären Glaubensstaat. Hier gelten nur noch Glaubenssätze und Willkür in der Auslegung – mühelos ließe sich aus den öffentlichen Äußerungen der Verkünder dieses neuen Glaubens eine Art Katechismus zimmern, ja, sogar die passenden “10 Gebote” ließen sich mühelos aus dem Ärmel schütteln. Auch die Komposition zeitgemäßer Gebets- und Gesangbücher, das Erfinden neuer Feiertage sowie eine neue Liturgie wären kein Problem. An Opferritualen wird es ebenfalls nicht fehlen.

Nun ist es mit dem Glauben aber so, dass nicht jeder Mensch glauben mag. Es ist nicht jedermanns Sache, das von der Medien-Kanzel verkündete Pfaffenwort als maßgeblich für sein Leben anzuerkennen. Schon gar nicht, wenn man gelernt hat, keiner Autorität blind zu vertrauen, sondern ihren Machtanspruch grundsätzlich zu hinterfragen. Man prüft die Autorität, ob sie wirklich etwas Maßgebliches und Wohlbegründetes zu sagen hat – wenn nicht, ist sie nur eine angemaßte Autorität und verdient nicht, dass man ihr folgt. Dieses genaue Hinschauen ist jedoch nicht mehr erwünscht – der Glaube möchte nur folgsame Diener.  Wer nicht glauben und nicht folgen mag, ist halt draußen – wird ausgeschlossen und im Zweifelsfall verfolgt. Das alles wurde in der Corona-Zeit eindrucksvoll demonstriert.

Kein Platz mehr für die Freiheit

Die individuelle Freiheit soll nun nichts mehr wert sein – jedenfalls nicht in diesem Land. Kämpft die Ukraine oder Menschen sonst wo auf der Welt um ihre Freiheit, ist das wohlgelitten. Gehen Menschen hierzulande gegen freiheitsbeschneidende Maßnahmen der Regierung auf die Straße, werden sie kriminalisiert. Oder im günstigsten Fall darüber belehrt, dass man beides doch nicht miteinander vergleichen könne. Doch, vergleichen kann, darf und sollte man alles, denn erst der Vergleich macht Unterschiede sichtbar. Diese Freiheit aber soll uns genommen werden.

Nun mag es ja so sein, dass viele Menschen froh sind, wenn sie nicht selbst nachdenken müssen. Denken ist anstrengend, kann zu Verunsicherung fühlen, kostet Zeit, macht keinen Spaß und man macht sich damit überdies oft beliebt. Zur Hölle also mit der Freiheit. Oder?

 

Bild: Franz Karl Remp “Der Tanz ums Goldene Kalb” (ca. 1710)

Lutz Meyer ist Texter und Autor. Schwerpunktthemen sind Gesundheit, Bauen und Philosophie.

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